Posts Tagged ‘Erinnerungskultur’

Ein stilles Mahnmal im Herzen Münchens – der Hofgarten erinnert an Opfer, Verlust und Hoffnung

2. November 2025

Irgendwie kennt es kaum ein Besucher meiner Geburtsstadt München, obwohl es eigentlich zentral liegt und eindrucksvoll ist.Das Kriegerdenkmal im Hofgarten in München liegt am östlichen, tiefer gelegenen Ende des Gartens direkt vor der Bayerischen Staatskanzlei und erinnert ursprünglich an die im Ersten Weltkrieg gefallenen Münchner. Die Masse der Besucher strömt in den Hofgarten und besucht den Pavillon, das Denkmal wird kaum besucht.

Die Anlage wurde 1924 in Anwesenheit Kronprinz Rupprechts von Bayern eingeweiht und bis 1928 in allen Details vollendet. Gestaltet wurde sie als versunkene, rechteckige Anlage aus Muschelkalk mit einer begehbaren Gruft in ihrem Zentrum. Vier abgewinkelte Treppen führen von den Längsseiten hinab in einen Vorraum, dessen Reliefs marschierende Soldaten sowie ein Gräberfeld zeigen.

In der Mitte liegt die offene Gruft aus Travertinblöcken: Zwölf massive Steinblöcke tragen eine rund zwei Meter starke, etwa 250 Tonnen schwere Deckenplatte; an ihren Schmalseiten führen Stufen zur überlebensgroßen Figur eines gefallenen Soldaten hinab. Diese eindringliche Skulptur schuf Bernhard Bleeker; der Gesamtentwurf des Denkmals entstand in Zusammenarbeit des Bildhauers Karl Knappe mit den Architekten Thomas Wechs und Eberhard Finsterwalder.

Die Inschriften fassen Sinn und Widmung des Ortes zusammen: An der Westseite der Deckenplatte steht „Sie werden auferstehen“, an der Ostseite „Unseren Gefallenen“. Im Innenraum findet sich die Widmung des Bayerischen Kriegerbundes „den 13.000 gefallenen Heldensöhnen der Stadt München 1914–1918“. Nach Kriegsbeschädigungen im Zweiten Weltkrieg wurde das Denkmal in vereinfachter Form ohne die ursprünglich angebrachten Namen der Gefallenen wiederhergerichtet; die Namenslisten gingen verloren. Zugleich ergänzte man im Innenraum eine zusätzliche Widmung für die Opfer der Jahre 1939–1945 (Gefallene, Vermisste und Luftkriegsopfer Münchens). Damit wurde der Gedenkort in der Nachkriegszeit bewusst auf beide Weltkriege bezogen.

Ein prägnantes Detail der Rezeptionsgeschichte betrifft die Materialgeschichte der Skulptur: Bleekers Figur des toten Soldaten war ursprünglich aus rotem Marmor gearbeitet. 1972 ersetzte man sie aus konservatorischen und sicherheitlichen Gründen durch einen Bronzeabguss, das Marmoralter befindet sich seitdem im Bayerischen Armeemuseum in Ingolstadt. Diese Maßnahme bewahrte das künstlerische Erscheinungsbild am Ort und schützte zugleich das empfindlichere Original.

Städtebaulich und erinnerungskulturell wirkt das Kriegerdenkmal als stiller Gegenpol zur repräsentativen Architektur ringsum: Der Besucher steigt von der offenen Gartenfläche in eine vertiefte, kühle Gedenkarchitektur hinab, die bewusst Konzentration und Innenschau fördert. Durch seine klare Formensprache und die liegende Figur fand das Münchner Denkmal in der Zwischenkriegszeit weite Beachtung; Motive wurden in zahlreichen Kriegerdenkmälern im süddeutschen Raum aufgegriffen – oft sogar mit der Münchner Inschrift „Sie werden auferstehen“. Bis heute steht die Anlage unter Denkmalschutz und bildet, unmittelbar hinter der Staatskanzlei gelegen, einen der eindrucksvollsten Gedenkorte der Stadt, an dem künstlerische Qualität, architektonische Strenge und die Mahnung gegen das Vergessen zusammenkommen.

Hinter diesen Mauern in Lübeck: Stille Zeugen von Leid, Unrecht und Erinnerung

20. September 2025

Die Klosterburg in Lübeck, auch als Burgkloster bekannt, zählt zu den bedeutendsten erhaltenen mittelalterlichen Klosteranlagen Norddeutschlands und steht auf dem historischen Burgberg unweit des Burgtors. Das Kloster ist über dem Europäischen Hansemuseum.

Ursprünglich 1229 auf den Resten der ehemaligen Lübecker Burg als Dominikanerkloster gegründet, spielte sie eine zentrale Rolle in der Entwicklung der Hansestadt. Die Anlage beeindruckt durch ihren vierflügeligen gotischen Backsteinbau mit Kreuzgang, Kapitelsaal, Refektorien und zahlreichen Wandmalereien, Kapitellen und Schlusssteinen. Ich habe es genossen, durch den Kreuzgang zu gehen.

Mit der Reformation im 16. Jahrhundert wurde das Kloster aufgelöst und in ein Armen- und Krankenhaus umgewandelt. Ihre Funktion wandelte sich erneut Ende des 19. Jahrhunderts, als die Klosterburg zum Gerichts- und Gefängniskomplex umgebaut wurde. Dabei entstanden die historischen Gefängniszellen, von denen heute noch zwei erhalten sind. Der Eindruck ist deprimierend. Wie müssen die Insassen, gerade zur Zeit des Nationalsozialismus gelitten haben. Hier eine 360 Grad Video der Zelle.

Die Gefängniszellen
Die Gefängniszellen im Burgkloster Lübeck waren äußerst schlicht und zweckmäßig eingerichtet, ganz im Sinne des damaligen Strafvollzugs. Sie bestanden in der Regel aus kleinen, kargen Räumen mit robusten Betten, einem einfachen Tisch und Stuhl sowie einer Waschgelegenheit. Die Wände waren unverziert und die Fenster vergittert, um maximale Sicherheit und Isolation zu gewährleisten.

Diese Zellen wurden von der Stadt Lübeck ab dem späten 19. Jahrhundert als Untersuchungs- und Strafhaft genutzt, nachdem das Kloster zum Gerichts- und Gefängniskomplex umgewandelt worden war. Sie dienten nicht nur der Inhaftierung gewöhnlicher Straftäter, sondern in Zeiten politischer Unruhen auch als Haftorte für politisch Verfolgte – besonders während des Nationalsozialismus wurde ihre Funktion für politische Haft prägend.

Zur Nutzung gehörten daher neben der bloßen Verwahrung auch regelmäßige Kontrollen sowie strenge Reglementierungen hinsichtlich Bewegung, Besuch und Versorgung der Insassen. Die sparsamen, beinahe asketischen Bedingungen in den Zellen spiegelten das Prinzip des Freiheitsentzugs wider und verdeutlichten die abschreckende wie disziplinierende Funktion solcher Haftanstalten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Während der NS-Zeit wurde das Burgkloster in Lübeck als Untersuchungsgefängnis und Gerichtsgebäude genutzt und erhielt dadurch eine düstere und belastete Bedeutung. Nach 1933 wurden politische Gegner, Juden, Widerstandskämpfer und andere Verfolgte des NS-Regimes an diesem Ort inhaftiert und oftmals verurteilt. Die Gefängniszellen im Kloster sind heute stille Zeugnisse jener Zeit; sie veranschaulichen eindrucksvoll die Bedingungen, unter denen die Häftlinge – oft unter menschenunwürdigen Umständen – festgehalten wurden.

Der Gerichtssaal
Ein weiteres bedeutendes Relikt dieser Zeit ist der erhaltene Gerichtssaal im Obergeschoss. Der Schöffengerichtssaal wurde ebenfalls im Zuge der Umnutzung im 19. Jahrhundert eingerichtet und veranschaulicht bis heute die Justizgeschichte Lübecks: Hier fanden Verhandlungen und Urteilsverkündungen statt, was dem Raum eine besondere historische Atmosphäre verleiht. Im Rahmen moderner Museumsführungen dient der Gerichtssaal heute als Ort des Innehaltens und Erinnerns an die Opfer des Unrechts, das im 20. Jahrhundert an diesem historischen Ort geschehen ist. Persönlich finde ich Gerichte immer als unangenehm. Dieser Raum ist schön, hat aber auch eine schlimme Geschichte während des Dritten Reiches. Hier ein 360 Grad Video des Gerichtssaals.

Besonders während der NS-Herrschaft diente das Burgkloster der Durchsetzung und Aufrechterhaltung der nationalsozialistischen Justiz. Prozesse gegen politische und religiöse Gegner, oder solche, die nach den rassistischen Gesetzen als „unerwünscht“ galten, fanden im Gerichtssaal statt.

Die Klosterburg versteht sich somit als architektonisches und kulturhistorisches Denkmal, dessen Mauern die vielen Schichten Lübecker Geschichte lebendig machen – vom mittelalterlichen Kloster über karitative Einrichtungen bis hin zur Justiz im 19. und 20. Jahrhundert. Heute ist das Burgkloster Teil des Europäischen Hansemuseums und lädt als authentischer Ort dazu ein, sich mit den Höhen und Tiefen der Stadtgeschichte auseinanderzusetzen.

Burgen, Beauty, Blitzlicht – wenn Schottlands Seele im TikTok-Filter glänzt

9. Juli 2025

Bisher habe ich nicht so viel auf diese Spezies von Mensch geachtet, aber seitdem ich in Schottland war, sind mir die TikToker massiv aufgefallen. Vielleicht liegt es an den ungewöhnlichen Ort Schottlands, dass die TikToker in Massen auftreten.

Sie sind zu zweit oder dritt unterwegs, posen an schönen Orten, um Klicks in dem chinesischen sozialen Netzwerk zu ergattern. Und an Orten wie dem Edinburgh Castle treten sie in Massen auf und agieren oftmals rücksichtslos. Damit das klar ist, die Menschen können sich in Szene setzen, posen, agieren wie sie lustig sind. Vielleicht mache ich das auch das eine oder andere Mal mit Selfies oder kleinen Clips, aber es war schon auffällig, welche Massen unterwegs waren. Klicks und Reichweite sind die Währung.

Ich beobachtete eine Gruppen junger Damen aus Asien, die als Team unterwegs waren. Eine zierliche Modell-Person vor der Kamera, ein Kameramann (oftmals waren es Männer) und eine Dame für Make-up, die zudem noch einen Scheinwerfer trug. Sie probten Szenen, hatten spontane Einfälle, agierten extravagant und – das Schlimmste: Blockierten den Tourismusbetrieb.

Ein auffälliges Phänomen an historischen Schauplätzen – insbesondere in touristisch beliebten Regionen wie Schottland – ist das Auftreten junger Frauen, die dort TikTok-Videos drehen. Diese sogenannten „TikTok-Mädchen“ nutzen die imposante Kulisse von Burgen, Schlössern oder alten Friedhöfen gezielt als Hintergrund für ihre Kurzvideos. Dabei fällt auf, dass sie nicht einfach spontan filmen, sondern häufig Szenen proben, kreative Einfälle umsetzen und sich in auffällig inszenierter Weise bewegen oder posieren. Oft tragen sie extravagante Outfits, die teils historisch inspiriert, teils modern überhöht sind, und agieren mit einer Mischung aus Selbstinszenierung, spielerischer Darbietung und theatralischer Gestik.

Die Motivation hinter diesen Videos ist vielfältig: Einerseits dient das Setting als stilistisch reizvoller Kontrast zu den modernen Inhalten oder als ästhetische Verstärkung romantisierender oder dramatischer Darstellungen. Andererseits ermöglicht die Kombination von Selbstdarstellung und historischer Kulisse eine gewisse Erzählkraft, die auf TikTok gut funktioniert. Diese Aufnahmen entstehen dabei oft nicht im Verborgenen – vielmehr ist es Teil des Konzepts, gesehen zu werden, sowohl von der digitalen Öffentlichkeit als auch von den Menschen vor Ort.

Insbesondere an touristisch stark frequentierten Orten in Schottland ist dieses Verhalten zunehmend zu beobachten. Die Nutzerinnen scheinen sich in der Atmosphäre der historischen Plätze kreativ herausgefordert und inspiriert zu fühlen. Sie verwandeln Orte wie Burgruinen, alte Treppenaufgänge oder kunstvoll gestaltete Fassaden temporär in Bühnen für persönliche Geschichten, tänzerische Darstellungen oder stilisierte Alltagsinszenierungen. Dabei wird Geschichte nicht zwingend inhaltlich thematisiert, sondern vielmehr als emotionale Kulisse genutzt – ein Hintergrund, der Dramatik, Schönheit oder Erhabenheit ausstrahlt und dem eigenen Auftritt Tiefe verleiht.

Das Phänomen steht exemplarisch für den Wandel in der Wahrnehmung und Nutzung historischer Orte in der Gegenwart: Wo früher reine Kontemplation oder klassische Fotografie dominierten, tritt heute die digitale Selbstinszenierung in Echtzeit. Historische Schauplätze werden damit zu Projektionsflächen individueller Kreativität – eine Entwicklung, die nicht ohne Widerspruch bleibt, aber zugleich Ausdruck einer veränderten Medien- und Erinnerungskultur ist.

Ich habe gemerkt, dass diese TikTok-Girls die Umgebung nerven können. Aber ob TikTok-Girls an historischen Orten als nervig empfunden werden, hängt stark von der Perspektive der Beobachtenden ab. Aus der Sicht vieler Besucher wirken sie mitunter tatsächlich störend – etwa dann, wenn sie mit auffälligen Posen, lauter Musik oder übertriebener Selbstinszenierung das Gesamtbild des Ortes dominieren. Wer einen historischen Ort wegen seiner Atmosphäre, Ruhe oder spirituellen Ausstrahlung aufsucht, kann sich durch das performative Verhalten dieser Influencer leicht irritiert oder sogar gestört fühlen. Auch wenn sie Treppen blockieren, immer wieder Szenen wiederholen oder andere daran hindern, ein Foto zu machen, entsteht schnell der Eindruck von Rücksichtslosigkeit.

Andererseits bringen diese TikTok-Nutzerinnen auch eine neue Form kultureller Aneignung und Auseinandersetzung mit historischen Orten mit sich – wenn auch oft visuell statt inhaltlich. Sie sehen die Orte nicht als stille Denkmäler, sondern als kreative Räume. In diesem Sinne können sie auch als Teil eines modernen, lebendigen Umgangs mit Geschichte verstanden werden. Wer dies erkennt, mag ihr Verhalten eher als Ausdruck jugendlicher Kreativität oder digitaler Gegenwartskultur einordnen.

Unterm Strich: nervig wirken sie dann, wenn sie den Ort für sich vereinnahmen und wenig Rücksicht auf andere nehmen. Sympathisch oder zumindest verständlich wirken sie, wenn sie sich unaufdringlich in die Umgebung einfügen und ihre Kreativität respektvoll ausleben.

Ein stählerner Zeuge vom Sterben der Wale

23. Juni 2025

Wie brutal der Walfang war und ist, zeigt sich für mich an einem Symbol im Stadtteil Leith in Edinburgh, direkt am Uferbereich „The Shore“. Dort steht eine auffällige Harpunenkanone, die an die lange und bedeutende Geschichte des Walfangs in Schottland erinnert. Sofort kommen wir Moby Dick und andere Geschichten über dieses grausame Unterfangen der Menschen an ihrer Umwelt in den Sinn.

Diese Kanone wurde einst für den industriellen Walfang verwendet und ist heute ein stummes Zeugnis einer vergangenen Epoche. Sie stammt aus der Zeit des modernen Walfangs und basiert auf dem norwegischen Modell von Svend Foyn, das ab 1870 durch den Einsatz von Treibladungen die Jagd auf Wale erheblich effizienter machte. Die industrielle Jagd begann. Der Mensch rüstete auf und die Wale hatten keine Chance.

Leith war seit dem 17. Jahrhundert ein Zentrum des Walfangs. Zunächst segelten Schiffe von hier aus in arktische Gewässer, insbesondere nach Grönland. Lokale Unternehmer wie Peter Wood betrieben dort Walfangstationen und errichteten Tran-Schmelzhütten im Bereich Timber Bush. Ein neuer Abschnitt begann im Jahr 1908, als das Unternehmen Christian Salvesen mit seiner antarktischen Flotte operierte. Die Firma entwickelte sich zum weltweit führenden Walfangunternehmen mit Hauptquartier in Leith und einer bedeutenden Basis in Leith Harbour auf der Insel Südgeorgien. Von dort aus wurden Wale im Südpolarmeer gefangen, zerlegt und verarbeitet – ein Geschäft, das bis 1965 andauerte.

Die heute in Leith sichtbare Harpunenkanone wurde 1996 von Christian Salvesen aufgestellt, als das Unternehmen seinen Hauptsitz verlegte. Sie dient als Mahnmal und Erinnerungsstück an die Rolle Schottlands in der weltweiten Walfangindustrie. Ergänzt wird dieses maritime Erbe durch weitere Denkmäler in der Umgebung, etwa das Merchant Navy Memorial, das der zivilen Handelsschifffahrt gewidmet ist. Das Denkmal ist ein paar Meter weiter zu sehen.

Die Harpunenkanone steht somit nicht nur für eine technologische und wirtschaftliche Blütezeit, sondern auch für den Wandel im gesellschaftlichen Umgang mit Natur und Tierwelt. Sie symbolisiert die industrielle Ausbeutung der Meere ebenso wie das zunehmende Bewusstsein für deren Schutz. Wenn sich dieser Gedanke wirklich durchsetzen würde und kein frommer Wunsch bleibt.

Buchkritik: Vergängliche Schönheit – Unterwegs mit Agnes Hörter zu den verlorenen Orten Bayerns

15. Juni 2025

Ich muss Agnes Hörter einfach dankbar sein. Sie dokumentiert mit ihrer Kamera Lost Places und hat sich in ihrem neuen Buch Lost Places in Bayern auch zur Aufgabe gemacht, ehemalige Lost Places zu porträtieren.

Viele der Gebäude, Fabriken und Freizeitanlagen, die Agnes mit einem guten Auge fotografiert hat, gibt es nicht mehr. Sie wurden abgetragen oder abgerissen – und es bleibt die Erinnerung an vergangene Geschichten. Als Beispiel seien nur die Königstherme in Königsbrunn bei Augsburg oder das geschichtsträchtige Hotel Lederer genannt, in dem 1934 Adolf Hitler seinen SA-Gefährten Ernst Röhm verhaften ließ. Die Nazis erfanden die Geschichte vom Röhm-Putsch und ließen die SA-Führung ermorden.

Agnes hat mit Lost Places in Bayern nunmehr ihr drittes Buch auf den Markt gebracht. Nach zwei Eigenpublikationen ist sie nun Autorin des Münchner Volk Verlags.

Agnes Hörters Lost Places in Bayern ist ein eindrucksvoller Bildband, der auf besondere Weise die Schönheit des Verfalls sichtbar macht. Die Fotografin, die in Augsburg lebt, entwickelt einen außergewöhnlich einfühlsamen Blick auf verlassene Orte – stille Zeugen vergangener Zeiten, die sie mit viel Gespür für Atmosphäre und Geschichte ins Bild setzt. Ich hatte neulich ein ausführliches Interview mit ihr geführt.

Auf über 200 Seiten nimmt Hörter die Leser mit zu rund zwei Dutzend „Lost Places“ in ganz Bayern – darunter stillgelegte Bunker, aufgegebene Thermen, leerstehende Hotels, verlassene Bauernhöfe und sogar Kirchen. Jeder Ort wird dabei nicht nur durch ausdrucksstarke Fotografien, sondern auch durch kurze, prägnante Begleittexte zum Leben erweckt. Diese Texte erzählen kleine Geschichten: vom einst mondänen Hotel, das später zum Lazarett wurde, oder vom Freizeitpark, der einst Kinderaugen zum Leuchten brachte und nun langsam von der Natur zurückerobert wird.

Die Bildsprache ist poetisch, manchmal melancholisch, dabei stets respektvoll. Man spürt: Hier wird nicht nur dokumentiert, sondern gewürdigt. Die Kombination aus Licht, Perspektive und Motiv macht viele Bilder zu kleinen Kunstwerken, die lange nachwirken. Man verweilt vor jedem Foto, entdeckt Details, spürt die Stille der Orte – und gleichzeitig deren Geschichte.

Lost Places in Bayern ist mehr als ein Fotobuch. Es ist eine stille Liebeserklärung an das Vergängliche, eine Einladung zum Innehalten, ein Nachdenken über Erinnerung, Zeit und Wertschätzung. Für alle, die sich für verlassene Orte interessieren, für Menschen mit einem Faible für visuelle Erzählkunst oder für Liebhaber Bayerns mit seinen vielen verborgenen Winkeln: Dieses Buch ist eine klare Empfehlung.

Dass die Edition im hochwertigen Großformat erscheint, unterstreicht die Wertigkeit des Projekts. Das Buch ist ideal als Geschenk, als Coffee-Table-Schmuckstück oder als Inspiration für eigene Entdeckungsreisen – und beweist einmal mehr, dass Schönheit oft dort liegt, wo man sie nicht erwartet.

Agnes Hörter ist mit diesem Werk ein atmosphärisch dichter, berührender und gleichzeitig visuell beeindruckender Band gelungen, der den Zauber des Verfalls mit einer stillen Würde einfängt. Ein Buch, das man nicht einfach durchblättert – sondern erlebt. Und irgendwann möchte ich Agnes einmal bei einer ihrer Touren begleiten.

Geschichte(n) zum Leben erweckt – die jährliche Lesung des Arbeitskreises Geschichte in der Gemeindebücherei Maisach

12. Mai 2025

Einmal im Jahr verwandelt sich die Gemeindebücherei Maisach in einen lebendigen Erinnerungsraum: Der Arbeitskreis Geschichte der Gemeinde lädt zur Lesung aus den „Meisaha“-Heften ein, der jährlich erscheinenden Publikation, die sich mit der Vergangenheit und den Geschichten der Gemeinde und ihrer Ortsteile befasst. Die Veranstaltung ist mehr als eine Vortragsreihe – sie ist ein atmosphärisches Zeitfenster, das die Vergangenheit eindrucksvoll gegenwärtig macht.

Die jüngste Lesung bot ein besonders breites Spektrum an Themen und Schicksalen, die allesamt tief mit Maisach und Umgebung verbunden sind. Sie zeigte auf eindrucksvolle Weise, wie reich, bewegend und manchmal auch kurios die lokale Geschichte ist. Hier die komplette Lesung in einem Stück.

Von Ziegeln und Schicksalen: Die Ziegelei in Rottbach
Den Auftakt machte Stefan Pfannes mit einem detaillierten und lebendig erzählten Beitrag zur Geschichte der Ziegelei in Rottbach. Die Wurzeln der Ziegelherstellung in der Region reichen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Besonders im Fokus stand das Lebenswerk des Landwirts und späteren Bürgermeisters Michael Pschor, der Anfang des 20. Jahrhunderts eine moderne Ziegelei mit Ringofen errichtete. Trotz großer Investitionen und anfänglicher Erfolge endete das Unterfangen tragisch – mit einem Großbrand, wirtschaftlichem Niedergang und dem vollständigen Verlust des Familienbesitzes.

Die Erzählung wurde ergänzt durch Anekdoten, persönliche Erinnerungen und sogar einen Einblick in das damalige Personalwesen: Maria Riesenberger, eine ledige Bauerntochter, fuhr als erste Frau die Elektrolok der Ziegelei – eine Leistung, die ihr männliches Umfeld laut ihren Worten schlicht nicht zustande brachte. Hier der Vortrag von Stefan Pfannes.

Der Einmarsch der Amerikaner: Kriegsende in Maisach
Helga Rueskäfer zeichnete anhand zeitgenössischer Pfarrberichte und kommunaler Dokumente das Kriegsende 1945 nach. Sie las aus den Aufzeichnungen des Pfarrers von Maisach, der den Einmarsch der amerikanischen Truppen als Befreiung beschrieb.

Neben Sachberichten über Plünderungen, Beschlagnahmungen und provisorische Verwaltungsstrukturen fanden auch persönliche Schicksale Erwähnung – etwa der eines russischen Wachmanns, der auf der Flucht erschossen wurde. Der Bericht verdeutlichte, wie abrupt der Zusammenbruch der alten Ordnung kam – und wie schwierig der Weg in eine neue, friedliche Zeit war. Hier der Vortrag von Helga Rueskäfer.

Kindheit im Exil: Ein Flüchtlingsmädchen in Gernlinden
Cornelia Schader gewährte mit ihrem Beitrag einen sehr persönlichen Einblick in das Leben ihrer Mutter Brigitte Mann, die 1945 als sechsjähriges Kind mit ihrer Familie aus Ostpreußen nach Gernlinden kam. Die detaillierte Schilderung der Flucht, der ersten Wohnsituation, der Integration in Schule und Alltag rührte das Publikum spürbar.

Mit plastischen Bildern – wie einer aus Fallschirmseide selbstgenähten roten Bluse – wurde deutlich, wie knapp und zugleich hoffnungsvoll das Leben nach der Flucht war. Besonders bewegend: die Erinnerung an die Schulspeisung mit Rosinengrütze und an die Freundlichkeit der amerikanischen Besatzungssoldaten, die Donuts und Schokolade an die Kinder verteilten.
Hier der Vortrag von Cornelia Schader.

Bahnunfälle und der Ruf nach Sicherheit
Karl Muth las mehrere Abschnitte aus seinem Artikel zu dramatischen Zugunglücken in Maisach und Gernlinden. Besonders eindrücklich war die Geschichte eines tragischen Unfalls im Jahr 1969, bei dem eine junge Frau auf einem ungesicherten Bahnübergang ums Leben kam.

Der ehemalige Bahnbeamte Ludwig Paternoster berichtete aus erster Hand über die Ereignisse, was dem Beitrag emotionale Tiefe verlieh. Die Schilderungen machten zugleich deutlich, wie lange in Maisach für die ersehnte Bahnunterführung gekämpft wurde – ein Mahnmal für die Bedeutung von Verkehrssicherheit. Hier der Vortrag von Karl Muth.

Industrielle Spuren: Das Kalksandsteinwerk in Überacker
Stefan Schader präsentierte seinen Text über das heute fast vergessene Kalksandsteinwerk in Überacker. Die Geschichte begann 1960 mit dem Abbau eines Sandhügels, der sich als wirtschaftlicher Rohstoff erwies. Die Fabrik bot neue Arbeitsplätze, lockte Gastarbeiter aus Spanien und Marokko an und veränderte die Sozialstruktur des Dorfes.

Nach der Wirtschaftskrise Mitte der 1970er Jahre wurde das Werk stillgelegt. Heute erinnert nur noch eine Halle an diesen Abschnitt Industriegeschichte. Mit viel Detailreichtum erzählte Schader von Technik, Alltag und Wandel in einem kleinen Ort. Hier der Vortrag von Stefan Schader.

Vom Herzen Maisachs nach Togo
Matthias J. Lange las aus seinem Artikel über die Entstehung der „Aktion PIT – Togohilfe“. Aus einer privaten Initiative entwickelte sich in den 1980er Jahren eine der bedeutendsten Togo-Hilfsorganisationen Deutschlands – ihren Ursprung hatte sie in einem Maisacher Wohnhaus. Mit anschaulichen Geschichten von Schulranzen, Feuerwehrbussen und ehrenamtlicher Hilfe bis hin zu globalem Engagement vermittelte der Beitrag eindrucksvoll, wie eine Gemeinde über sich hinauswachsen kann. Besonders berührend war das Erinnern an Elisabeth, das erste Patenkind mit der Startnummer 100, und an die kleinen Erfolge, die in Summe große Wirkung entfalten. Hier der Vortrag von Matthias J. Lange.

Eine legendäre Rauferei
Zum Abschluss trug Stefan Schader noch eine amüsante Anekdote vor: eine legendäre Wirtshausschlägerei aus den Nachkriegsjahren, bei der Maisacher Burschen und Mitglieder des Boxclubs Fürstenfeldbruck aneinandergerieten. Der Vater der Müllersöhne rief per Telefon zum Kampf auf und versprach, alle Schäden zu bezahlen – was er später auch tat.

Die Geschichte, längst zu einer Art Dorfle­gende geworden, sorgte für Schmunzeln und erinnerte an eine Zeit, in der Konflikte oft noch mit Fäusten, aber auch mit Ehre ausgetragen wurden. Hier der Vortrag von Stefan Schader .

Die Lesung des Arbeitskreises Geschichte war ein eindrucksvolles Beispiel für gelebte Erinnerungskultur auf kommunaler Ebene. Die Beiträge reichten von bewegender Familiengeschichte über Industrie- und Verkehrsgeschichte bis hin zu humorvollen Anekdoten – stets fundiert recherchiert, persönlich erzählt und mit dem Herzen bei der Sache.

Die Meisaha-Hefte sind nicht nur eine Chronik der Vergangenheit, sondern auch ein Fenster in das kollektive Gedächtnis der Gemeinde. Die Veranstaltung in der Gemeindebücherei Maisach zeigte: Geschichte lebt, wenn man sie erzählt. Und Maisach hat viel zu erzählen.