Archive for the ‘Film’ Category

Django (1966) – Rückblick auf meine Matinee

18. Dezember 2025

Sergio Corbuccis „Django“ von 1966 zählt zu den Filmen, die den Italo-Western nicht nur geprägt, sondern radikal erneuert haben. Mit Franco Nero in der Titelrolle entstand eine Figur von ikonischer Wucht: ein schweigsamer Antiheld, getrieben von Rache, gefangen zwischen Einsamkeit und moralischer Unschärfe – ein Mann, der mehr Abgrund als Hoffnung in sich trägt. Der nächste Film in meiner Western-Matinee am 28. Dezember 2025 im Scala-Kino Fürstenfeldbruck. Ich bespreche und zeige den Clint Eastwood-Western Erbarmungslos. Karten gibt es hier.

Schon die berühmte Anfangssequenz, in der Django einen Sarg durch den Schlamm einer trostlosen Grenzstadt zieht, entfaltet eine verstörende Symbolkraft. Sie steht für den Zerfall des amerikanischen Mythos, für eine Welt, in der Leben und Tod, Schuld und Erlösung untrennbar ineinander übergehen. Hier die Aufzeichnung meines Vortrags.

Corbucci entwirft ein Amerika, das mit den heroischen Bildern des klassischen Westerns nichts mehr gemein hat. Statt weiter Landschaften und klarer Ehrenkodizes herrschen Morast, Gewalt und Hoffnungslosigkeit. Die Stadt, in der Django ankommt, wird zum Sinnbild einer zerfallenen Ordnung. Zwei rivalisierende Gruppierungen bestimmen das Geschehen: auf der einen Seite brutale, rassistische Südstaatenmilizionäre, auf der anderen mexikanische Revolutionäre. Zwischen diesen Fronten bewegt sich Django als zynischer Einzelgänger, der weder Partei ergreift noch moralische Gewissheiten kennt – einzig sein persönlicher Rachefeldzug treibt ihn voran.

Die Darstellung von Gewalt war zur Entstehungszeit des Films revolutionär. „Django“ zeigt sie roh, überhöht und zugleich von eigentümlicher Ästhetik. Corbucci inszeniert das Töten als groteskes Ritual einer Welt, in der moralische Maßstäbe längst aufgehoben sind. Besonders eindringlich ist die Szene, in der Djangos Hände zertrümmert werden: ein Akt der Entmachtung, der den vermeintlichen Helden bricht und ihn zugleich zutiefst menschlich erscheinen lässt. Django ist kein unverwundbarer Revolvermann, sondern ein Verwundeter, der seinen letzten Kampf aus nackter Verzweiflung führt.

Über seine stilistische Radikalität hinaus ist der Film auch politisch lesbar. Geprägt von den gesellschaftlichen Spannungen der 1960er-Jahre nutzt Corbucci den Western als Allegorie auf Macht, Unterdrückung und Gewaltstrukturen. Die Südstaatenmilizionäre mit ihren roten Kapuzen erinnern unübersehbar an den Ku-Klux-Klan; ihre Brutalität ist ideologisch aufgeladen und zutiefst rassistisch. Djangos Widerstand wird so zum Kampf des Individuums gegen ein System – ein zentrales Motiv des politisch geprägten Italo-Westerns.

Untrennbar mit der Wirkung des Films verbunden ist die Musik von Luis Bacalov. Das Titellied „Django“, gesungen von Rocky Roberts, verleiht dem Film eine melancholische, beinahe sakrale Grundstimmung und bildet einen eindrucksvollen Kontrast zur schmutzigen, gnadenlosen Bildwelt.

Franco Nero prägt die Figur mit einer Mischung aus kühler Eleganz und stiller Verlorenheit. Sein Blick, seine sparsamen Gesten und die kontrollierte Körperhaltung machen Django zum Prototyp des einsamen Rächers – ein Archetyp, der spätere Westernfiguren ebenso beeinflusste wie Quentin Tarantinos moderne Neuinterpretation.

In der Rückschau steht „Django“ heute gleichberechtigt neben den Klassikern Sergio Leones – allerdings dunkler, kompromissloser und politischer. Corbuccis Film ist weniger Abenteuergeschichte als Abgesang auf die Mythen des Westens. Schlamm, Wind und Blut werden zur ästhetischen Sprache eines Genres, das Schönheit im Verfall sucht.

Verpassen Sie diesen Meilenstein des Italo-Westerns nicht. „Django“ ist ein visuell kraftvoller, moralisch vielschichtiger und bis heute verstörend aktueller Film. Trotz seines geringen Budgets entfaltet er eine enorme Wirkung und bleibt ein düsteres Gedicht über Rache, Schuld und Einsamkeit.

Der nächste Film in meiner Western-Matinee am 28. Dezember 2025 im Scala-Kino Fürstenfeldbruck. Ich bespreche und zeige den Clint Eastwood-Western Erbarmungslos. Karten gibt es hier.

Ein Hauch von 007: Der legendäre Aston Martin DBS aus Casino Royale als Corgi Modell CC03803

17. Dezember 2025

Das Corgi Modell CC03803 ist ein detailreiches Diecast-Sammlerstück, das den Aston Martin DBS aus dem James-Bond-Film „Casino Royale“ in verkleinertem Maßstab einfängt. Es richtet sich klar an erwachsene Sammlerinnen und Sammler, die sowohl eine Affinität zu Automodellen als auch zur 007-Filmreihe haben.

Vorbild und Filmbezug
Als Vorbild dient der Aston Martin DBS, den James Bond (Daniel Craig) im 2006 erschienenen „Casino Royale“ während seines Einsatzes in Montenegro fährt. Damit knüpft das Modell an die lange Tradition der Verbindung zwischen 007 und den Sportwagen aus dem Hause Aston Martin an, die seit Jahrzehnten zu den ikonischsten Filmfahrzeugen überhaupt gehören.

Ausführung und Maßstab
Das Modell wird in einem Maßstab von 1:36 gefertigt und misst ohne Verpackung rund 12,9 Zentimeter in der Länge, womit es gut in Vitrinen oder auf dem Schreibtisch zur Geltung kommt. Die Karosserie besteht aus druckgegossenem Metall mit einzelnen Kunststoffteilen, die feinere Strukturelemente und Details ermöglichen.

Optik und Details
Der Aston Martin DBS ist in einem dezenten Grauton gehalten, der dem Auftritt im Film nachempfunden ist und die eleganten Linien des Sportwagens betont. Fein ausgearbeitete Oberflächendetails, bedruckte Markierungen und realistisch gestaltete Räder mit gummierten Reifen unterstreichen den Anspruch als Sammlermodell.

Sammlerfokus und Zielgruppe
Da es sich um ein lackiertes, hochwertiges Diecast-Modell handelt, wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es nicht als Spielzeug für Kinder geeignet ist, sondern als Sammlerobjekt ab etwa 14 Jahren gedacht ist. Für Fans von James Bond, Aston Martin oder Filmfahrzeugen im Allgemeinen bietet das CC03803 eine kompakte Möglichkeit, ein Stück „Casino Royale“-Atmosphäre in die eigene Sammlung zu holen.

Der Partyschreck – Rückblick auf meine Matinee

12. Dezember 2025

Der Film „Der Partyschreck“ („The Party“) aus dem Jahr 1968 ist eine der berühmtesten Komödien mit Peter Sellers und gilt bis heute als Meisterstück des Slapstick-Humors und der Improvisationskunst. Ich besprach den Film in meiner Matinee im Scala Kino Fürstenfeldbruck. Die nächste Matinee am Sonntag, 21. Dezember ist der Weihnachtsklassiker Schöne Bescherung. Karten für das Event gibt es hier.

Unter der Regie von Blake Edwards, der bereits mit der „Pink Panther“-Reihe Comedygeschichte geschrieben hatte, entfaltet sich eine anarchische, episodenhafte Handlung, die weniger auf eine ausgefeilte Story als vielmehr auf situativen Witz, Timing und die Präsenz seines Hauptdarstellers setzt. Hier die Aufzeichnung meines Vortrags.

Im Mittelpunkt steht der indische Schauspieler Hrundi V. Bakshi, ein unbeholfener, aber gutmütiger Statist, der am Set einer großen Hollywoodproduktion ein Desaster nach dem anderen auslöst. Eigentlich sollte er daraufhin auf die berüchtigte schwarze Liste des Studios gesetzt werden. Durch ein bürokratisches Versehen landet sein Name jedoch nicht auf der Verbotsliste, sondern auf der Einladungsliste zu einer mondänen Party des Produzenten. Damit beginnt der eigentliche Kern des Films: eine Nacht voller Missgeschicke, chaotischer Verwicklungen und sozialer Fauxpas, die Bakshi unbeabsichtigt auslöst.

Die Party, die in einem luxuriösen Anwesen in den Hollywood Hills stattfindet, bildet die Bühne für eine lose Abfolge humoristischer Episoden. Bakshi versucht verzweifelt, sich in die glamouröse Gesellschaft einzufügen, doch seine Unbeholfenheit führt immer wieder zu Katastrophen: Er zerstört ein automatisiertes Bedienpult, löst mit seinem Schuh eine Wasserfontäne aus, missversteht kulturelle Codes der Dandys und Starlets oder gerät in Situationen, die die Absurdität der oberflächlichen Filmbranche entlarven. Viele Gags basieren auf leisen Gesten, Pausen und kleinen Reaktionen – ein Markenzeichen von Sellers, der den schüchternen, höflichen Bakshi mit viel empathischem Humor spielt.

Blake Edwards nutzt die Party als Mikrokosmos für Hollywoods Eitelkeiten und die gesellschaftlichen Kontraste der späten 1960er-Jahre. Die Satire bleibt dabei leichtfüßig, niemals bösartig, und steigert sich langsam zu einem immer größeren Chaos, das schließlich in einer wilden Schaumparty gipfelt. Besonders bemerkenswert ist die visuelle Komik: lange Einstellungen, sorgfältig komponierte Räume und die zunehmende Absurdität der Ereignisse machen den Film zu einer Art modernem Stummfilm, in dem Dialoge zwar vorkommen, aber die visuelle Erzählung dominiert.

„Der Partyschreck“ ist nicht nur wegen seines Slapsticks legendär, sondern auch wegen seiner Improvisationen. Große Teile des Films basieren auf spontanen Ideen von Sellers, dessen Spiel die Mischung aus Unschuld und komischer Katastrophe perfekt verkörpert. Der Film wirkt dadurch trotz seines Alters überraschend zeitlos und hat sich zu einem Kultklassiker entwickelt, der Komödien bis heute beeinflusst.

Insgesamt ist „Der Partyschreck“ eine elegante, chaotische und charmante Komödie, die weniger durch Handlung als durch Atmosphäre, Timing und die brillanten Einfälle ihrer Macher überzeugt. Der Film lädt dazu ein, sich einfach fallen zu lassen und dem unaufhaltsamen Strudel von Missgeschicken zuzusehen, den Hrundi V. Bakshi mit wunderbarer Naivität entfacht. Blake Edwards’ Regie zeigt große Präzision: Der Film ist wie ein choreografiertes Stück visueller Komik inszeniert. Die Kamera beobachtet ruhig, das Tempo steigert sich stetig, bis die Party völlig aus dem Ruder läuft – ein Paradebeispiel filmischer Timing-Kunst.

Aus heutiger Sicht ist die Darstellung eines Inders durch einen weißen Schauspieler im „Brownface“ jedoch klar problematisch. Zwar wird die Figur nicht boshaft verspottet, doch die kulturelle Aneignung und stereotype Anlage sind nicht mehr zeitgemäß. Der Film gilt deshalb als „komisches Meisterwerk“, das man heute nur mit kritischer Distanz genießen sollte.

Die nächste Matinee am Sonntag, 21. Dezember ist der Weihnachtsklassiker Schöne Bescherung. Karten für das Event gibt es hier.

Filmkritik: Barry Lyndon (1975) von Stanley Kubrick (in 4K)

11. Dezember 2025

Endlich ist Stanley Kubricks Historienfilm Barry Lyndon (1975) zum 50. Geburtstag auf 4K erschienen. Für mich ist der Film ein absolutes Meisterwerk. Ich habe diesen Filme wiederholt gesehen und lange mir immer wieder Gedanken dazu gemacht. Ich habe von dem Film die VHS, Laserdisc, DVDm Bluray und jetzt das 4K-Steelbook.

Barry Lyndon gilt als einer seiner visuell beeindruckendsten und ästhetisch ausgefeiltesten Filme. Das auf William M. Thackerays Roman basierende Epos erzählt vom Aufstieg und Fall des irischen Abenteurers Redmond Barry im 18. Jahrhundert – in einer Erzählweise, die ebenso präzise wie distanziert ist. Berühmt wurde der Film vor allem für seine betörende Bildgestaltung und den innovativen Einsatz von Kerzenlicht, aber auch für sein gemächliches Erzähltempo. Bereits bei Erscheinen eilte Barry Lyndon der Ruf voraus, „behäbig erzählt“ und sogar langweilig zu sein – Kritiker spotteten mit dem Wortspiel „Borey Lyndon“.

Zugleich lobte man jedoch die außergewöhnliche Schönheit der Bilder. Heute, aus zeitlicher Distanz, wird Barry Lyndon oft als Meisterwerk angesehen, das mit kühler Perfektion die Vergangenheit lebendig werden lässt und filmästhetisch neue Maßstäbe setzte.

Kameraführung und Bildkomposition
Visuell nähert sich Barry Lyndon der Ästhetik des 18. Jahrhunderts wie kaum ein anderer Film. Kubrick und Kameramann John Alcott komponieren nahezu jede Einstellung wie ein Gemälde der alten Meister. Viele Szenen beginnen mit einer Detailaufnahme und ziehen sich dann langsam mit einem Zoom zurück, bis sich ein vollständig ausgeleuchtetes Tableau ergibt, das an ein Tableau vivant oder direkt an ein Landschafts- oder Porträtgemälde jener Zeit erinnert. Kubrick trieb diese Technik im Film konsequent auf die Spitze – nahezu jede Szene wird mit einem langsamen Zoom eröffnet. Anders als bei einer Kamerafahrt bleibt die Perspektive dabei flach; tatsächlich wirkt der Film oft bewusst wie ein fotografiertes Gemälde: flächig und ohne Tiefe. Die Figuren erscheinen mitunter klein und unwichtig innerhalb prächtig komponierter Landschaften oder Räume, was ihre Bedeutungslosigkeit vor den grandiosen Schauplätzen der Geschichte betont. Dieses visuelle Konzept vermittelt – gleich in der ersten Einstellung, die Barrys Vater als winzige Figur in weiter Landschaft bei einem Duell und seinem Tod zeigt – ein Gefühl der Distanz und der Vorbestimmtheit des Geschehens. Der Mensch ist bei Kubrick sprichwörtlich eine kleine Figur auf der großen Bühne des Schicksals.

Kubrick wollte nach eigener Aussage die Schönheit barocker Malerei in den Film übertragen und das Leben jener Epoche authentisch erfahrbar machen. Dafür bereiste er monatelang historische Schauplätze, studierte unzählige Gemälde und Zeichnungen und ließ seine Szenen direkt von diesen Vorbildern inspirieren. Viele großformatige Totalen in Barry Lyndon sind denn auch Kompositionen nachempfunden, die an Künstler wie John Constable, William Hogarth oder Thomas Gainsborough erinnern . Die Einstellungen wirken wie lebendig gewordene Bilder des Rokoko – ein Kritiker sprach von „den überwältigendsten Bildkompositionen, die je auf Zelluloid gebannt wurden“. Jede Szene reiht sich an die nächste wie die Tafeln eines Gemäldezyklus. Kubricks Kamera bleibt dabei meist statisch oder bewegt sich eben nur durch Zooms; schnelle Schwenks oder hektische Schnitte sucht man vergebens. Stattdessen setzt er auf lange, ruhige Einstellungen, in denen die Schauspieler sich oft wie auf einer Theaterbühne innerhalb eines perfekt arrangierten Bildraums bewegen. Dieses streng kontrollierte Zusammenspiel von Kameraführung und Mise-en-scène verleiht dem Film seinen unverwechselbaren malerischen Stil. Das Auge des Zuschauers bekommt die Muße, in den Details zu verweilen – von den opulenten Kostümen über die historischen Requisiten bis zur Landschaft im Hintergrund. Kubrick selbst sammelte für den Film einen ganzen Katalog visueller Referenzen aus Kunstbüchern (für Kostüme, Ausstattung, Möblierung etc.), um möglichst jede visuelle Facette der Zeit korrekt wiederzugeben. Kein Element im Bild ist dem Zufall überlassen; alles orientiert sich an der Ikonographie des 18. Jahrhunderts.

Interessanterweise entschied sich Kubrick fast immer für Zooms statt Kamerafahrten, obwohl Letztere räumliche Tiefe erzeugen könnten. Ein praktischer Grund dafür war, dass in den echten historischen Schlössern und Herrenhäusern, in denen gedreht wurde, schwere Kameraschienen oft nicht verlegt werden konnten, ohne die empfindlichen Böden zu beschädigen. Doch auch ästhetisch sind die Zooms bedeutsam: Sie verändern den Bildausschnitt, ohne die Perspektive des Hintergrunds zu verschieben, was den Gemälde-Charakter der Einstellungen erhält. Dadurch wirken die Bildkompositionen noch mehr wie starre Gemälderahmen, in denen sich das Geschehen entfaltet. Insgesamt schafft die Kameraführung so einen ästhetischen Abstand – der Zuschauer betrachtet viele Ereignisse wie ein außenstehender Beobachter, fast wie in einer Galerie der Vergangenheit. Kubricks bilderzählende Inszenierung lässt oft die Optik statt Dialoge sprechen: Zahlreiche Passagen kommen ganz ohne Worte aus, und die stummen Bilder tragen dann die Bedeutung. Dies entspricht Kubricks Intention, ein historisches Panorama zu gestalten, das weniger von dramatischer Handlung als von visuell-atmosphärischer Erfahrung lebt. Die Konsequenz, mit der Kameraführung und Komposition an Gemäldeästhetik und formale Strenge angepasst sind, macht Barry Lyndon zu einem singulären filmischen Kunstwerk.

Lichtgestaltung: Kerzenlicht als Stilmittel
Barry Lyndon erlangte besondere Berühmtheit durch seine Lichtgestaltung: Kubrick entschied, sämtliche Innenraumszenen ausschließlich im Schein von Kerzen und natürlichem Licht zu drehen – ohne den Einsatz moderner Studio-Beleuchtung. Dieses Wagnis entsprang dem Wunsch nach maximaler historischer Authentizität und dem Eindruck barocker Gemälde, in denen Licht und Schatten eine zentrale Rolle spielen. Um das technisch zu ermöglichen, bediente sich Kubrick einer einzigartigen Lösung: Er ließ spezielle extrem lichtstarke Objektive der Firma Carl Zeiss verwenden, die ursprünglich für die NASA entwickelt worden waren. Diese Planar-Objektive mit einer Öffnung von f/0.7 – weit lichtempfindlicher als jedes herkömmliche Filmobjektiv – machten es möglich, in echtem Kerzenlicht überhaupt zu filmen . Zusätzlich wurde hochempfindliches Filmmaterial genutzt, um trotz der Dunkelheit ausreichend Bildinformation zu erhalten. Dennoch musste teilweise mit Unterbelichtung gearbeitet werden, die man erst in der Filmentwicklung durch sogenannte Push-Verfahren ausglich – ein Prozess, der den Kontrast und die Farbwiedergabe des Bildes beeinflusste. Diese technische Gratwanderung hatte zur Folge, dass die nächtlichen Innenaufnahmen des Films ein weiches, leicht körniges Aussehen mit eingeschränktem Kontrastumfang besitzen – genau jene schwebende, unwirkliche Lichtstimmung, die den Bildern eine zeitentrückte Patina verleiht. Das flackernde, warme Kerzenlicht taucht Gesichter und Räume in sanftes Halbdunkel, in dem Details manchmal nur erahnt werden. Dieser Effekt erinnert an die Stimmung alter Ölgemälde, die im Laufe der Zeit nachgedunkelt sind oder feine Risse und Vergilbungen aufweisen. So wird das Licht selbst zum Träger der historischen Distanz: Es schafft eine Atmosphäre, die dem Publikum unbewusst signalisiert, dass wir in eine vergangene Welt blicken.

Kubrick trieb den Aufwand dieser natürlichen Beleuchtung immer weiter. In jeder Nacht-Szene scheinen im Verlauf des Films mehr Kerzen aufzutauchen – offenbar mussten für spätere, größer angelegte Sequenzen immer mehr Kerzen aufgestellt werden, um genügend Licht für die Kamera zu erzeugen.

Teilweise brannten dutzende von Kerzenleuchtern gleichzeitig, um beispielsweise einen Ballsaal auszuleuchten. Die Herausforderung war enorm: Schon kleine Bewegungen der Darsteller oder Luftzüge konnten die Kerzenflammen flackern lassen und so die Belichtung verändern. Kubrick und Alcott entwickelten daher auch besondere Techniken, um die Kerzen in den Szenen so zu platzieren, dass sie nicht nur Lichtquelle, sondern auch natürlicher Teil des Dekors waren – etwa auf Tischen, in Kronleuchtern oder als Kandelaber, die von Figuren gehalten werden. Das Licht kommt häufig von der Seite oder schräg von vorn, um Gesichtern Plastizität zu verleihen (rein frontales Kerzenlicht hätte die Gesichter flach und konturenlos erscheinen lassen). Tatsächlich studierte das Team die Malereien alter Meister – beispielsweise die niederländischen und französischen Kerzenlicht-Szenen – um deren Effekte nachzuempfinden. Man stellte fest, dass rein frontale Beleuchtung auf Gemälden oft etwas flach wirkte und entschied sich daher, die wichtigsten Lichtquellen seitlich zu setzen, um Tiefe und Schattenspiel zu erzeugen.

Ein entscheidender Beweggrund für Kubricks radikalen Verzicht auf Kunstlicht war auch die Erkenntnis, dass historische Materialien und Farben unter modernen Scheinwerfern anders aussehen würden als im ursprünglichen Licht der Zeit. Bei den aufwendigen Vorbereitungen – originale Kostüme wurden erworben oder detailgenau nachgeschneidert – bemerkte Kubrick, dass Stoffe des 18. Jahrhunderts bei elektrischem Licht unnatürlich wirken . Um die Farben und Texturen so zu zeigen, wie sie im Kerzen- und Tageslicht der Epoche gewirkt hätten, entschied er während der Produktion überraschend, sämtliche Nachtszenen nur im Kerzenlicht zu drehen. Dieses kompromisslose Streben nach Authentizität führte paradoxerweise zu einem Stil, der hyperreal und malerisch zugleich ist: Hyperreal, weil wir als Zuschauer tatsächlich das Gefühl bekommen, im 18. Jahrhundert in einen schwach beleuchteten Salon zu blicken; malerisch, weil das Spiel aus Licht und Schatten fast unwirklich schön und kunstvoll komponiert ist. Ein Kritiker bemerkte treffend, das Ergebnis dieser Bemühungen um Authentizität sei letztlich kein purer Realismus, sondern eine „seltsam irreale, schwebende Lichtstimmung“, die wie ein visueller Schleier über der historischen Distanz liege. Durch das Halbdunkel im Innenraum entfaltet sich zudem eine Morbidität – eine morbide Stimmung – als Symbol des Verfalls einer Epoche, die sich bereits auf dem Weg in die Auflösung befindet.

Kubricks Kerzenlicht-Experiment hat Filmgeschichte geschrieben. Noch Jahrzehnte später wird diese Leistung bestaunt, da zuvor kein Spielfilm derart umfangreich mit echtem Kerzenlicht realisiert worden war. Die technische Meisterleistung (inklusive Umbau der Kameras für die NASA-Objektive) ging Hand in Hand mit einer künstlerischen Vision: Die Vergangenheit sollte so unmittelbar und unverfälscht erscheinen, dass man als Zuschauer förmlich die Atmosphäre jener Zeit spürt – sei es in rauchigen Tavernen, prunkvollen Ballräumen oder intimen Kammerszenen im Schein flackernder Flammen. All dies trägt maßgeblich zum unverwechselbaren Look des Films bei. Kubrick selbst schrieb jedem Filmvorführer zur Erstaufführung detaillierte Anweisungen, wie der Film vorzuführen sei (etwa hinsichtlich Projektorlampen und Blenden), damit die subtile Helligkeit der Kerzenlichtszenen korrekt zur Geltung kommt – ein Hinweis darauf, wie wichtig ihm das erzielte Licht-Ergebnis war. Zusammen mit der sorgfältigen Komposition ergibt die Lichtgestaltung ein visuelles Erlebnis, das von vielen als „der schönste Film aller Zeiten“ bezeichnet wurde und bis heute seinesgleichen sucht.

Farbdramaturgie
Eng verknüpft mit der Lichtgestaltung ist die Farbdramaturgie des Films. Barry Lyndon entfaltet eine Farbpalette, die stark an die Ära des Spätbarock und Rokoko angelehnt ist. Die dominierenden Töne sind gedämpft, natürlich und wirken oft wie von einem leichten Sepia-Schleier überzogen – was nicht zuletzt ein Resultat der verwendeten Technik (Unterbelichtung und Push-Entwicklung) ist. Durch das Verfahren der Nachentwicklung wurde der Kontrastumfang reduziert und die Farbsättigung verändert, was dem Bild eine leicht körnige, pastellene Anmutung gibt. Die Farben erinnern an gealterte Gemälde oder an mit Kerzenlicht beleuchtete Räume: Hauttöne bekommen einen warmen Goldschimmer, die kostbaren Stoffe der Kostüme schimmern in gedämpften Blau-, Grün- und Rottönen, nie grell oder übersättigt. Dieser bewusste Verzicht auf knallige Farben unterstreicht die historische Atmosphäre und verleiht dem Film eine edle Zurückhaltung in der Farbgebung.

Kubrick achtete peinlich genau darauf, dass Farben im Film stimmig zur Zeit passen. So wurden z.B. Uniformen, Kleider und Tapeten farblich nach Vorlagen aus dem 18. Jahrhundert ausgewählt. Die berühmten roten Uniformröcke der britischen Soldaten stechen kräftig hervor, während etwa die Pastelltöne der Rokoko-Mode oder die erdigen Farben ländlicher Szenen authentisch wiedergegeben sind. In Außenaufnahmen nutzte Kubrick oft die weichen Farben der irischen und englischen Landschaft – sattes, aber nicht überdrehtes Grün der Wiesen, graublaue Himmel, braune Landstraßen. Viele Außenaufnahmen entstanden bei natürlichem Licht, häufig an leicht bedeckten Tagen oder im Morgen-/Abendlicht, um zu grelle Farben und harte Schatten zu vermeiden. So entsteht in den Landschaftsbildern eine fast gemäldeartige Farbharmonie: Himmel, Erde, Kostüme der Figuren – alles scheint farblich aufeinander abgestimmt zu sein, als hätte ein Landschaftsmaler seine Palette angesetzt.

Die Farbdramaturgie folgt dabei subtil auch dem erzählerischen Bogen. In der ersten Filmhälfte, in der Barry sich in verschiedenen Milieus bewegt (irische Heimat, britisches Militär, preußische Armee, höfische Gesellschaft), variiert das Farbspektrum je nach Umgebung: Das irische Dorfleben zeigt sanfte Grün- und Brauntöne, Militärszenen betonen das Kontrastrot der Uniformen vor neutralen Hintergründen, die adligen Salons schimmern in Gold, Silber und Kerzenlicht. Wenn Barry schließlich Lady Lyndon heiratet und im Überfluss lebt, dominieren in Schlosses-Szenen helle Töne, Weiß und Pastellfarben – als visuelle Entsprechung des oberflächlichen Prunks. Im zweiten Teil, als Barrys Glück zu schwinden beginnt, werden die Farben tendenziell dunkler und kühler: Die Stimmung trübt sich, die prachtvollen Räume wirken dunkler (auch weil viele Schlüsselszenen – wie der dramatische Showdown im Billardsaal beim Duell – im Halbdunkel gehalten sind). So verschwindet die leichte, helle Farbigkeit des Rokoko allmählich und macht einer gedeckteren, fast melancholischen Tonalität Platz, während Barrys Leben aus den Fugen gerät. Ob bewusst so konzipiert oder Ergebnis des dramaturgischen Empfindens des Zuschauers – die Farbentwicklung unterstützt die Erzählung: vom hoffnungsvoll-idyllischen Beginn bis zum düsteren Ende in Resignation.

Auch durch die Kerzenlichtaufnahmen erhalten die Farben eine besondere Note: Das flackernde Licht lässt Gesichter röter oder fahler erscheinen, je nach Abstand zur Flamme, und es lässt die vergoldeten Tapeten und Gemälde an den Wänden warm aufleuchten. Schattenbereiche verschwimmen in braun-schwarzen Tönen. So entsteht in den Innenräumen fast automatisch ein Chiaroscuro-Effekt (Hell-Dunkel-Kontrast), der von Malern wie Rembrandt oder den kerzenlichtmalenden Meistern (z.B. Georges de La Tour) bekannt ist. Kubrick hat also nicht nur inhaltlich, sondern auch farblich eine Dramaturgie des Lichts geschaffen: Licht und Farbe erzählen mit. Im Ergebnis wird der Film zu einem optischen Gesamtkunstwerk, in dem Farbgebung, Beleuchtung und Komposition untrennbar zusammenwirken. Jeder Frame könnte – wie oft bemerkt wurde – als Gemälde an der Wand hängen, und die Farben würden genau so darauf erscheinen.

Filmmusik und ihr narrativer Einsatz
Wie schon in früheren Filmen (man denke an 2001: Odyssee im Weltraum mit Strauss und Ligeti) verzichtete Kubrick auch in Barry Lyndon auf eine originale Auftrags-Filmmusik und stellte stattdessen einen Soundtrack aus klassischer Musik und Volksmusik zusammen, der dramaturgisch äußerst gezielt eingesetzt wird. Die ausgewählten Stücke entstammen – mit einer bewussten Ausnahme – der Zeit, in der der Film spielt, oder sogar früher. Wir hören Kompositionen von Georg Friedrich Händel, Johann Sebastian Bach, Antonio Vivaldi, Giovanni Paisiello, Wolfgang Amadeus Mozart und (als Ausreißer, da erst spätes 18. Jh.) Franz Schubert, außerdem traditionelle irische Musik, eingespielt von der Folk-Gruppe The Chieftains. Diese musikalische Zeitverankerung verleiht dem Film einerseits historische Authentizität im Klang, andererseits nutzt Kubrick die Musik sehr bewusst als erzählerisches Mittel – als unsichtbaren Erzähler gewissermaßen, der Stimmungen und Subtexte transportiert.

Am bekanntesten ist das musikalische Hauptthema des Films: Händels „Sarabande“ in d-Moll (HWV 437). Dieses gravitätische, schreitende Barock-Stück durchzieht den Film in mehreren Variationen. Kubricks Komponist/Arrangeur Leonard Rosenman orchestrierte die Sarabande unterschiedlich, je nach Kontext: Zunächst hört man sie in einer pompösen, feierlichen Fassung, die Barrys Ambitionen und den Pomp der alten Ordnung unterstreicht; später – wenn Barrys Glück schwindet – kehrt sie in reduzierter, klagender Instrumentierung wieder und erhält beinahe einen Trauermarsch-Charakter. So wird die Sarabande zu einem musikalischen Leitmotiv für Aufstieg und Fall der Hauptfigur. Besonders eindringlich wirkt dies im Finale: Während des klimaktischen Duells zwischen Barry und seinem Stiefsohn Lord Bullingdon steigert sich die Sarabande über sechs Minuten zu einem unerträglichen Crescendo der Angst. Hier treibt die Musik die Spannung voran und kommentiert zugleich die ausweglose Situation – ohne ein Wort Dialog.

Neben Händel spielen auch andere Stücke prägnante Rollen: Schuberts Klaviertrio Es-Dur (op.100) erklingt in der berühmten Balz- und Verführungssequenz, als Barry zum ersten Mal Lady Lyndon im Spielsaal begegnet. Diese Szene, in der kaum gesprochen wird, ist nahezu vollständig durch Musik und Blicke erzählt. Kubrick streckt den Moment – eine simple Abfolge von Blicken, ein Kuss auf die Hand, das Andeuten von Verführung – zu einer langen Sequenz, in der Schuberts anrührende Melodie die unterdrückten Emotionen und die knisternde Spannung zwischen den Figuren transportiert. Martin Scorsese beschrieb diese Szene treffend als „eine Art Ballett der Emotionen“, bei dem die Kamerabewegungen, die Körpersprache der Schauspieler und die Musik perfekt aufeinander abgestimmt sind. Die Musik versetzt den Zuschauer dabei fast in Trance und macht spürbar, was unausgesprochen bleibt. Interessanterweise endet Rosenmans Bearbeitung des Schubert-Trios in der Szene, bevor das leidenschaftliche Mittelthema einsetzt – Kubrick wollte bewusst keinen Höhepunkt in der Musik, der die aufkeimende Leidenschaft allzu romantisierend krönen würde. Stattdessen wiederholt sich das Hauptthema, was laut Kubrick Lady Lyndons Frustration und Barrys Unvermögen, eine nachhaltige Beziehung aufzubauen, unterschreicht. Diese subtilen Entscheidungen zeigen, wie gezielt Kubrick die klassischen Stücke für seine narrative Absicht formte.

Ein weiteres musikalisches Leitmotiv ist das irische Volkslied „Women of Ireland“ (Mná na h-Éireann), das in einer instrumentalen Fassung der Chieftains mehrmals erklingt – vor allem in Momenten, die mit Barrys irischer Herkunft oder seinen romantischen Gefühlen verbunden sind. Es untermalt etwa seine zärtlichen Szenen mit seiner ersten Liebe Nora, taucht aber auch später auf, wenn Barry wehmütig oder sentimental gezeigt wird. Die klagende Melodie dieses irischen Airs verleiht dem Film eine emotionale Tiefe und erinnert den Zuschauer daran, wo Barry herkommt – was er im Laufe seiner Reise vielleicht selbst vergisst.

Für die Militärszenen und Marschsequenzen wählte Kubrick authentische Marschmusik: Der britische Marsch „British Grenadiers“ ist zu hören, ebenso der preußische „Hohenfriedberger Marsch“. Diese Einlagen geben den Kriegs- und Armeeszenen den passenden historischen Klangteppich und wirken teils ironisch, wenn die fröhlich-patriotischen Weisen der grausamen Realität der Schlacht gegenübergestellt werden. So marschieren Barrys britische Kameraden zu fröhlicher Pfeifen-und-Trommeln-Musik in die Schlacht – ein bewusster Kontrast zwischen Musik und Bild, der die Absurdität des Krieges fühlbar macht.

Generell setzt Kubrick Musik oft als ironischen Kontrapunkt ein. Ein Beispiel: Nach Barrys liebevoller, sanfter Begegnung mit einem deutschen Bauernmädchen im Krieg (einer romantischen Episode, die fast wie eine kurze Idylle wirkt), beendet der Erzähler die Szene mit der Bemerkung, sie sei „wie eine oft belagerte Stadt“ schon von vielen Soldaten „erobert“ worden. Dazu erklingt eine leichte Musik, die die scheinbare Romantik unterläuft und uns spüren lässt, dass Barrys Affäre nichts Besonderes ist. Solche Momente zeigen Kubricks zynisch-humorvolle Handschrift: Die Musik kann sowohl Emotion evozieren als auch entlarven.

In Barry Lyndon dominiert die Musik in weiten Teilen die Atmosphäre der Szenen mindestens ebenso stark wie das Bild . Häufig sind ganze Passagen nur von Musik und Bildern getragen, ohne Dialog – hier „erzählt“ die Musik mit.

Filmwissenschaftler haben angemerkt, dass in Kubricks späten Filmen – speziell 2001, Clockwork Orange und Barry Lyndon – die Musik eine so führende Rolle spielt, dass sie die emotionale Ebene der Filme bestimmt und den Zuschauer eher unbewusst mitnimmt. Die Musik spricht die Gefühle an, bevor der Verstand alles einordnen kann. In Barry Lyndon erreicht Kubrick damit, dass der Film trotz seiner kühlen, distanzierten Inszenierung eine starke emotionale Wirkung entfaltet – jedoch auf unerwartete Weise: Wir werden nicht durch dramatische Schauspielkunst oder melodramatische Handlung ergriffen, sondern durch die Kombination aus Bild und Musik, die zusammen eine Stimmung erzeugt. Die Sarabande beispielsweise schafft von Beginn an eine Ahnung von Tragik und Schicksalsschwere, die Barrys Werdegang wie ein musikalisches Schicksalsmotiv unterlegt.

Zusammenfassend ist Kubricks Musikeinsatz in Barry Lyndon meisterhaft und vielschichtig: Er wählt die Stücke mit historischen Bedacht, passt sie durch Arrangement und Platzierung den Szenen an und nutzt sie, um Stimmung, Kommentar und Struktur zu geben. Die Musik fungiert teils als erzählerischer Kommentar (ähnlich dem Voice-over), teils als emotionaler Verstärker oder ironischer Gegenpol. Sie trägt wesentlich dazu bei, dass der Film trotz seiner langsamen, kontrollierten Bildsprache einen hypnotischen Sog entwickelt. Wie ein Kritiker schrieb, gelingt es Kubrick, mit dem „subtilen Soundtrack zwischen Händels ‘Sarabande’ und irischen Traditionals seine Erzählung gleichsam narrativ voranzubringen als auch ironisch zu kommentieren“. Barry Lyndon ist somit auch ein Paradebeispiel dafür, wie vorbestehende Musikstücke in einem Filmkontext völlig neue erzählerische Kraft entfalten können.

Erzählstruktur und Tempo
Die Erzählstruktur von Barry Lyndon folgt bewusst einem zweitteiligen Aufbau, der im Film sogar durch Einblendungen („Erster Teil“ / „Zweiter Teil“) kenntlich gemacht wird. Im ersten Teil begleiten wir Redmond Barry auf seiner abenteuerlichen Reise durch Europa, in immer neue soziale Rollen und Stationen: vom verarmten irischen Landedelmann zum Duellanten, vom Soldaten zum Deserteur, vom Gauner zum opportunistischen Aufsteiger. Kubrick präsentiert diese Odyssee als episodische Abfolge von Stationen – Barry wird als Notlügner, Faustkämpfer, Soldat, Deserteur, Spion, Glücksspieler, Geldeintreiber und Emporkömmling gezeigt . Jedes Kapitel seines Lebens bringt neue Orte, Personen und Erfahrungen. Dieser erste Teil kulminiert darin, dass Barry durch Heirat in den Adel aufsteigt: Er ehelicht Lady Lyndon und erwirbt so Namen und Reichtum – scheinbar das Ziel all seiner Bemühungen. Hier endet Teil I, an der Schwelle von Barrys sozialem Gipfel.

Der zweite Teil setzt genau dort ein und kehrt die Dynamik um. War Barry zuvor ein rastlos Suchender, der sich von Ort zu Ort bewegt, so finden wir ihn nun als Mann, der sein Ziel erreicht hat – doch dieses Glück ist trügerisch. Statt weiterer Stationen erleben wir nun einen statischen Abschnitt: Barry lebt als Ehemann auf dem Landsitz seiner Frau, umgeben von geschlossenen Räumen und einem festen Zuhause in Form eines Schlosses . Die Dramaturgie des zweiten Teils ist weniger episodisch, vielmehr kreist sie um Barrys allmählichen Niedergang: Seine Verschwendungssucht, seine Affären, die zerrüttete Ehe, der Konflikt mit Stiefsohn Lord Bullingdon, der tragische Verlust seines eigenen kleinen Sohnes und schließlich Barrys sozialer Absturz. In gewisser Weise spiegelt der zweite Teil den ersten – jedoch als Niedergang statt Aufstieg. Es gibt wieder Duelle, Gewalt und Demütigungen, aber nun richten sie sich gegen Barry. Diese narrative Symmetrie (Duell zu Beginn und Duell am Ende; körperliche Züchtigungen in Armee und später durch den Stiefsohn; Aufstieg und Fall) verleiht dem Gesamtwerk einen geschlossenen, fast kreisförmigen Charakter. Laut Kubrick ergab sich diese Symmetrie hauptsächlich aus den Erfordernissen der Adaption und Dramatisierung und weniger aus einem vorgefassten „Plan“ – dennoch wirkt das Resultat hochgradig durchkomponiert. Man hat den Eindruck, einer elegischen Geschichte zu folgen, in der sich bestimmte Motive wiederholen und variieren, ähnlich wie in einem Musikstück Themen aufgegriffen und in Moll gespiegelt werden.

Besonders auffällig ist das langsame Erzähltempo. Kubrick nimmt sich bewusst Zeit, um Szenen in Ruhe entfalten zu lassen. Die Einstellungen sind meist lang, Dialoge spärlich. Übergänge zwischen Szenen erfolgen oft elliptisch (Übersprung ganzer Zeiträume) oder werden vom allwissenden Erzähler in wenigen Sätzen zusammengefasst, anstatt sie in Hektik auszuspielen. Diese Entschleunigung war in den Augen mancher Zuschauer ungewohnt – gerade nach Kubricks vorherigen, teilweise provokant schnellen Filmen wie Uhrwerk Orange. Doch Kubrick verfolgte hier ein klares Konzept: Er wollte das Zeitgefühl des 18. Jahrhunderts vermitteln. Martin Scorsese bemerkte bewundernd, Kubricks „Kühnheit besteht darin, auf Langsamkeit zu bestehen, um das Lebenstempo jener Zeit nachzubilden und das Verhalten der Menschen zu ritualisieren“ . Tatsächlich spürt man in jeder Szene die förmliche Langsamkeit höfischer Etikette, die Bedächtigkeit, mit der man sich in dieser Epoche bewegte – sei es beim höflichen Konversationsspaziergang, beim umständlichen Ankleiden mit Korsett und Perücke oder beim Verbeugen vor Adligen. Kubrick ritualisiert durch sein Tempo das Verhalten der Figuren: So wie damals alles seinen Zeremoniell hatte, so bekommt auch der Film einen zeremoniellen Fluss.

Eine bewusste Erzählentscheidung ist auch das Vorwegnehmen von Ereignissen durch den Erzähler. Spannung im herkömmlichen Sinne – also Neugier, was als Nächstes passiert – tritt in den Hintergrund. Stattdessen betont Kubrick das Wie und Warum der Geschehnisse. „Barry Lyndon ist eine Geschichte, die nicht von Überraschungen lebt. Wichtig ist nicht, was passieren wird, sondern wie es passieren wird“, erläuterte Kubrick. So erfahren wir beispielsweise frühzeitig, dass Barrys kleiner Sohn Bryan bald sterben wird, während wir ihn noch unbeschwert mit seinem Vater spielen sehen. Oder der Erzähler kündigt an, dass der junge Lord Bullingdon eines Tages Barrys Untergang einleiten wird – lange bevor der offene Konflikt eskaliert. Dieses Foreshadowing (Vorauseilen der Handlung) nimmt zwar den Überraschungseffekt, erzeugt jedoch eine andere Art von Spannung: die Spannung des Unvermeidlichen. Ähnlich wie man bei der Titanic-Katastrophe von Anfang an weiß, dass das Schiff sinken wird, schaut man hier den sorglosen Szenen mit Bryans Spiel oder Barrys Festen mit beklemmender Ahnung zu. Kubrick meint, dass durch dieses Vorauswissen die Ereignisse schicksalhafter und weniger konstruiert wirken. Der Zuschauer soll nicht durch plot twists geschockt werden, sondern die bittere Ironie genießen (oder ertragen), dass alles längst seinen Lauf in Richtung Tragödie nimmt.

Diese ungewöhnliche Erzählweise – ohne künstliche Suspense, dafür mit viel sarkastischer Dramaturgie – verstärkt den Eindruck, dass wir es hier mit einem historischen Gemälde des Lebens zu tun haben, nicht mit einem konventionellen Drama. Thackerays Roman trug den Untertitel „Memoiren eines Junkers, aufgezeichnet von ihm selbst“ und wurde als „Roman ohne Helden“ bekannt. Kubrick übernahm diese Idee und baute sie in die Filmstruktur ein: Barry Lyndon bleibt bis zum Ende eine ambivalente Figur, die weder glorifiziert noch klassisch verdammt wird. Die Erzählung wertet nicht moralisch, sondern zeigt die Variationen eines Lebens, von Naivität über Ehrgeiz bis Bitterkeit. Damit einher geht, dass Kubrick das Publikum nicht mit emotional manipulativen Mitteln hetzt, sondern zur kontemplativen Betrachtung einlädt. Viele Kinogänger der 1970er waren damit zunächst überfordert oder ungeduldig – in Zeiten des New Hollywood erwartete man vielleicht eine andere Art von Erzählfluss. Doch in der Rückschau erkennt man, wie konsequent Kubrick hier erzählerische Konventionen auf den Kopf stellte. Ein Kritiker nannte den Film deshalb treffend „den teuersten Experimentalfilm aller Zeiten“ – Kubrick habe die essentiellen Errungenschaften des avantgardistischen Kinos der 60er/70er Jahre (Entschleunigung, Verweigerung klassischer Spannungskurven, formale Strenge) in ein aufwändiges Kostümdrama übertragen, was zuvor undenkbar schien.

Letztlich ist das Erzähltempo in Barry Lyndon nicht Selbstzweck, sondern Ausdruck von Kubricks inhaltlicher Haltung: Das Leben, so scheint er zu sagen, verläuft nicht in dramatischen Wendepunkten und pointierten Dialogen, sondern oft langsam, schleichend und von Kräften bestimmt, die außerhalb individueller Kontrolle liegen. Die geduldige, chronikartige Struktur des Films vermittelt genau dieses Gefühl. Und gerade in der Summe der detailreichen, ruhigen Beobachtungen entfaltet sich am Ende ein erschütterndes Gesamtbild vom „Aufstieg durch Leichtgläubigkeit und Fall durch die strengen Sitten einer Epoche“ – eine Art filmisches Gesellschaftsgemälde, das man nach drei Stunden fast genauso atemlos wie eine Actionszene verlässt, nur eben auf anderer Ebene berührt.

Schauspiel und Figurenzeichnung
Kubrick ist bekannt dafür, von seinen Schauspielern ein manchmal extrem zurückhaltendes Spiel zu fordern – so auch in Barry Lyndon. Die Darsteller agieren betont gedeckt, gestisch minimalistisch und oft mit poker face. Hauptdarsteller Ryan O’Neal, damals ein Hollywood-Star (Love Story machte ihn berühmt), verkörpert Redmond Barry mit großer körperlicher Präsenz, aber vergleichsweise sparsamer Mimik und Gestik. Dieser nüchterne, kontrollierte Ausdruck wurde von manchen Kritikern als ausdruckslos oder „hölzern“ kritisiert, aber er passt genau zu Kubricks Intention: Barry Lyndon ist ein Opportunist, der sich ständig anpasst und in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts bewegen muss, ohne aus der Rolle zu fallen. O’Neal vermittelt mit wenigen Gesten Barrys Stolz und Narzissmus, aber auch die stille innere Freude über seinen sozialen Aufstieg – all dies mit großer Nüchternheit und ohne theatrales Ausagieren. In den Momenten, in denen Barry explodieren könnte (etwa als er betrunken auf einer Gesellschaft seinen Stiefsohn verprügelt), wirkt er dennoch wie ein Mann, der in seiner eigenen Welt gefangen ist – kurz enthemmt, doch bald wieder gefasst.

Ähnlich verhält es sich mit Marisa Berenson als Lady Lyndon. Sie hat im Drehbuch kaum Dialogzeilen; ihre Figur wird vor allem über Blicke, Schweigen und Präsenz definiert. Berenson legt Lady Lyndon mit schweigsamer, melancholischer Introvertiertheit an. Oft sitzt sie wie erstarrt im dekorativen Rahmen, mit einem leicht entrückten Ausdruck – eine schöne, aber traurige Erscheinung, die an Gemäldeporträts jener Epoche erinnert. Gerade diese stumme Melancholie ihrer Darstellung macht spürbar, wie unglücklich Lady Lyndon in der arrangierten Ehe mit Barry ist, wie sehr sie in den Konventionen gefangen ist. Ein Lächeln von ihr ist rar; stattdessen dominiert ein leidendes, stumpfes Hinnehmen der Geschehnisse (etwa wenn Barry ihr im Hochzeitskutschensitz gleichgültig Zigarrenrauch ins Gesicht bläst und sie es stoisch erträgt).

Generell erscheint ein Großteil der Figuren wie Geister oder Marionetten in einer perfektionierten Kulisse . Kubrick hatte alle Darsteller – auch die Nebendarsteller in den Salons und an den Höfen – in authentische Puderperücken, Schminke und steife Kostüme gehüllt. Die schwere weiße Schminke (Puder) der Zeit überzog die Gesichter so sehr, dass das Mienenspiel der Akteure tatsächlich physisch eingeschränkt war und maskenhaft wirkt. Diese Maskierung ist nicht zufällig: Sie symbolisiert die Maske der gesellschaftlichen Rolle, die jeder in dieser Epoche trägt. Gefühle werden hinter höfischer Fassade verborgen. Kubrick trieb dies so weit, dass er sogar in emotional zugespitzten Momenten auf Ausbrüche verzichtet. Wenn etwa Barry vom Tod seines geliebten Sohnes Bryan erfährt, sehen wir ihn zwar verzweifelt – aber die Szene wird nicht in einem lauten Gefühlsausbruch gezeigt, sondern in einer stummen Sequenz: Barry sitzt ohnmächtig am Sterbebett, und Kubrick blendet zu einem betenden Pfarrer über. Die eigentliche Trauer wird später nur in einer stummen Einstellung sichtbar, in der Barry und Lady Lyndon gemeinsam, doch emotional voneinander getrennt trauern.

Diese Zurückdrängung der Emotionen ist von Kubrick bewusst intendiert. Er inszeniert die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts als Welt der Form, nicht des Gefühls. Die Etikette verlangt Fassung – und Kubrick überträgt diese Fassung bis ins Schauspiel. Es gibt im gesamten Film nur wenige Momente, in denen Emotion ungefiltert hervorbricht. Einer davon ist das Duell zwischen Barry und Bullingdon am Ende: Hier zeigt Barry Nervenflattern, Angst und letztlich eine Regung von Großmut (als er absichtlich daneben schießt), während Bullingdon zitternd und wutentbrannt agiert. In dieser Szene „fallen die Masken“ einmal, und Barry wird eindeutig sympathisch gezeichnet – erstmals wirkt er emotional offener als sein adeliger Kontrahent . Doch solche Momente sind Ausnahmen. Insgesamt zieht Kubrick es vor, die Charaktere wie Schachfiguren ihres Schicksals wirken zu lassen – eingeordnet in starre Strukturen, aus denen sie nicht ausbrechen. Folgerichtig sind viele Figuren um Barry herum nur schemenhaft oder typisiert charakterisiert: der bigotte Hofprediger Runt (Murray Melvin) mit seiner stillen Abneigung gegen Barry, die gierige, intrigante Mutter (Marie Kean), der dekadent-schwache Chevalier de Balibari (Patrick Magee) etc. Kubrick meinte dazu, dem Zuschauer würden ohnehin alle nötigen Informationen zu den Figuren gegeben; ausführliche psychologische Motivationsstudien fände er langweilig . Ein kleiner Blick oder eine Geste – etwa das feine Lächeln der Genugtuung, das Reverend Runt zeigt, als Barry am Ende verbannt wird – solle genügen, um die innere Haltung der Nebenfiguren zu verstehen.

Man kann diese Regiehaltung als kühl oder distanziert empfinden, doch sie hat Methode. Kubricks Werk durchzieht das Thema der Entmenschlichung und der Ohnmacht des Individuums gegenüber größeren Mächten . In Barry Lyndon zeigt er dies explizit durch die Zurückdrängung von Emotionen: Die Menschen wirken beinahe wie Automaten, die ihren gesellschaftlichen Pflichten folgen – ähnlich wie Alex in Uhrwerk Orange am Ende als „Uhrwerk-Orange“ erscheint . Diese tiefe Skepsis Kubricks gegenüber der Wirkmächtigkeit individueller Leidenschaft zieht sich hier durch: Weder Barry noch Lady Lyndon können letztlich ihrem vorgezeichneten Weg entrinnen. Obwohl sie handeln – Barry betrügt, kämpft, steigt auf; Lady Lyndon trotzt kurz Barrys Kontrollwut mit einem Selbstmordversuch – bleibt doch das Gefühl, dass die Figuren getrieben werden, nicht aktiv ihr Schicksal gestalten. Selbst Barrys Entscheidungen scheinen oft fremdbestimmt: aus der Situation heraus, durch andere aufgezwungen oder durch seinen Charakter vorgegeben. Folglich erleben wir Barry weniger als psychologisch ausgeformte Person, sondern eher als Medium oder Vermittler, der uns durch die Schichten der Gesellschaft führt. Er repräsentiert den Jedermann, an dem die Einflüsse der Zeit demonstriert werden – ein notwendiges Übel für die Gesellschaft, aber nie wirklich Teil von ihr.

Trotz dieser distanzierten Zeichnung gelingt es den Hauptdarstellern, dem Zuschauer punktuell Empathie zu entlocken. Gerade weil Barry so zwiespältig, oft passiv und dann wieder skrupellos ist, weiß man nie genau, wie man zu ihm stehen soll – man empfindet eine Mischung aus Anziehung und Abstoßung, ähnlich wie Thackeray es intendierte. Kubrick selbst beschrieb Barry als „weder ein konventioneller Held noch ein Schurke“, sondern einen realistischen Charakter mit Charme und Mut, aber auch Eitelkeit und Schwächen. Diese Ambivalenz spiegelt sich in O’Neals Spiel: Man kann Barry nicht wirklich lieben, aber auch nicht völlig hassen; er bleibt ein Mensch mit nachvollziehbaren Träumen und Fehlern. Am Ende, wenn Barry schwer verwundet und sozial vernichtet die Bühne verlässt, empfindet man durchaus Mitleid – eben weil Kubrick uns nicht einen strahlenden Helden genommen hat, sondern einen fehlbaren Menschen, dessen Scheitern eine tragische Dimension erreicht. Ein Kritiker formulierte das so: Am Ende verspürt man „ein Gefühl völliger Vergeudung“ – all das Schöne, all der Aufwand, all Barrys Mühen erscheinen als letztlich vergeblich und verschwendet. Diese tragische Note entsteht gerade durch das zurückhaltende Schauspiel: Hätte Kubrick Barry als leidenschaftlichen Helden inszeniert, wäre sein Fall melodramatisch; so aber wird er mit kühler Beobachtung zum Menetekel für menschlichen Hochmut und Vergänglichkeit.

Zusammengefasst zeichnet Kubrick seine Figuren – insbesondere durch die Schauspielregie – bewusst im Einklang mit dem Filmthema: Form schlägt Emotion. Die Darsteller werden Teil des ästhetischen Konzepts; sie agieren wie Figuren in einem großen Gemälde der Gesellschaft, oft maskenhaft, in Pose, aber nicht leblos. Denn unter der Oberfläche brodelt es durchaus: Man spürt Lady Lyndons stille Verzweiflung, Barrys frustrierte Sehnsüchte, Bullingdons kalten Hass. Kubrick lässt uns diese Gefühle erahnen, ohne sie auszusprechen. So bleibt um die Figuren eine Aura des Rätselhaften – was sie umso glaubwürdiger in dieser erstickenden Gesellschaft macht. Und letztlich dienen die Darsteller Kubricks bittersüßer Vorstellung einer Welt, „deren Geschichte selbst mit größter Anstrengung weder von äußeren noch inneren Kräften verändert werden kann“ . Die Figuren repräsentieren Zustände und Ideen (Naivität, Dekadenz, Ehrgeiz, Bigotterie etc.) mehr als individuelle Biographien. In dieser stilisierten Darstellungsweise liegt ein großer Teil des cineastischen Reizes von Barry Lyndon: Man schaut diesen wie Geister durch vergangene Räume wandelnden Figuren fasziniert zu und erkennt in ihrem stummen Spiel eine tiefe Wahrheit über die Ohnmacht des Menschen im Räderwerk der Zeit.

Einsatz von Voice-over und Erzähler
Ein zentrales erzählerisches Mittel in Barry Lyndon ist der Voice-over-Erzähler. Kubrick entschied sich, im Gegensatz zur Romanvorlage (die aus Barrys Ich-Perspektive erzählt ist), einen allwissenden dritten Erzähler einzusetzen. Dieser Erzähler – gesprochen im Original von Michael Hordern mit trocken-ironischer britischer Intonation – führt mit kommentierenden Off-Texten durch die Handlung. Der Kunstgriff hat mehrere Funktionen und Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Films.

Erstens ermöglicht der Erzähler eine ökonomische Vermittlung von Informationen. Kubrick selbst betonte, dass die Geschichte sehr umfangreich sei und ein Voice-over ein elegantes Mittel biete, Fakten und Übergänge mitzuteilen, ohne schwerfällige Expositionsdialoge inszenieren zu müssen. Statt etwa einer Szene, in der Figuren künstlich erklären „Wir haben kein Geld mehr, weil du es im Spiel verloren hast“, übernimmt der Erzähler diese Aufgabe in einem Satz – präzise und nüchtern. So wird z.B. der Zeitsprung von Barrys Heirat zum Familienleben auf dem Landsitz mittels Erzähler in wenigen Momenten überbrückt. Diese Technik verleiht dem Film etwas Literarisches: Er wirkt stellenweise tatsächlich wie ein vorgelesener Roman, in dem Passagen zusammengefasst werden. Kubrick verteidigte das Voice-over ausdrücklich als „völlig legitimes und ökonomisches Mittel“, um erzählerische Informationen zu vermitteln, die keine szenische Ausarbeitung mit dramatischem Gewicht benötigen.

Zweitens dient der Erzähler als ironischer Kommentator. Viele Voice-over-Passagen sind mit feiner Süffisanz geschrieben – oft von Thackerays eigenen Formulierungen inspiriert – und stehen in spannendem Kontrast zu dem, was man auf der Leinwand sieht. Ein Beispiel ist die erwähnte Szene mit dem deutschen Bauernmädchen: Während Barry zärtlich mit ihr anbändelt (und der Zuschauer fast einer romantischen Verführung beiwohnt), kommentiert der Off-Erzähler nüchtern, dass diese junge Dame „ähnlich wie eine Stadt, die oft durch Belagerung eingenommen wurde, schon viele Eroberer erlebt hat“. Mit einem Schlag wird die sentimentale Stimmung entlarvt – wir erkennen, Barry ist nicht ihr erster Liebhaber und vermutlich auch nicht ernsthaft an ihr interessiert außer körperlich. Solche Momente erzeugen einen komischen Effekt durch Diskrepanz: Die Bilder mögen etwas anderes suggerieren als das, was der Erzähler trocken ausspricht. Kubrick erklärt hierzu, dass Barry natürlich im Spiel der Verführung so überzeugend wie möglich auftritt – würde er zwinkern und dem Publikum zeigen, dass er lügt, wäre das unrealistisch, denn wenn wir täuschen, tun wir es so überzeugend wie möglich. Daher übernimmt der Erzähler die Rolle, die Wahrheit als ironischen Kontrapunkt zu liefern. Der Film nutzt diese Technik häufig, um Sentimentalitäten zu unterlaufen und dem Geschehen eine satirische Note zu geben, ähnlich wie Thackerays Roman eine Satire auf die Gesellschaft war.

Drittens – und am wichtigsten – etabliert der Voice-over eine Dramaturgie des Vorwegnehmens. Wie bereits bei der Erzählstruktur erwähnt, nimmt der Erzähler essenzielle Wendungen der Handlung vorweg: Er kündigt an, dass Barry Captain Quinn im Duell gar nicht getötet hat (noch bevor Barry selbst es erfährt), oder dass Barrys neu geborenes Söhnchen „nicht lange leben“ wird, noch während wir es als Säugling sehen. Dieses Antizipieren hat Kubrick bewusst von Thackeray übernommen: Im Roman lässt Thackeray seinen (unzuverlässigen) Ich-Erzähler Barry Lyndon ebenfalls viele Dinge im Voraus andeuten, um der Geschichte den Reiz der Ironie und das Schicksalshafte zu geben . Kubrick überträgt dieses Prinzip ins Voice-over und erzielt damit den schon beschriebenen Effekt, dass der Film nicht auf Überraschung, sondern auf Unabwendbarkeit setzt. „Thackeray verzichtet auf den Vorteil der Überraschung zugunsten eines stärkeren Gefühls der Unvermeidlichkeit“, so Kubrick. Indem der Erzähler die Zukunft verrät, entsteht beim Zuschauer anstelle von klassischer Spannung eher ein wissendes Vorausblicken: Man wartet geradezu darauf, dass das angekündigte Unglück eintritt, und erlebt die Szenen davor in einem anderen Licht. Kubrick vergleicht das, wie erwähnt, mit der Titanic: Wüsste man nicht, dass das Schiff sinkt, wären die fröhlichen Auslauf-Szenen nur nett – mit dem Wissen aber lasten sie unheilvoll und bekommen Tiefe . Genauso ist es, wenn wir Barry und seinen Sohn glücklich tollen sehen, während die Stimme uns schon verrät, dass das Kind bald sterben wird: Die Idylle wird tragisch aufgeladen.

Die Wirkung des Voice-overs ist somit zweigeteilt: Es schafft Distanz und Verbundenheit zugleich. Distanz, weil es die emotionale Beteiligung immer wieder „abkühlt“. Kubrick nutzt den Off-Kommentar tatsächlich manchmal gezielt, um Emotionen einzufangen und auf Distanz zu halten. Direkt nach sehr bewegenden Momenten meldet sich gern der Erzähler und fasst sachlich zusammen, was das Publikum fühlen soll. Als etwa Lady Lyndon nach Barrys endgültigem Niedergang im Epilog einen Scheck ausstellt, konstatiert die Erzählstimme trocken die Gleichgültigkeit, mit der sie Barrys Namen von der Zahlungsliste streicht – ein Akt, der ohne Kommentar vielleicht mehr stille Tragik entfalten würde. Doch durch den Kommentar bleibt das Geschehen stets im Rahmen eines beobachteten Experiments, nicht eines miterlebten Dramas. Auf der anderen Seite stiftet die Erzählerstimme aber auch eine gewisse Intimität mit dem Zuschauer: Wir werden ins Vertrauen gezogen, bekommen Hintergrundwissen und Einschätzungen, die den Figuren auf der Leinwand mitunter fehlen. Insofern fungiert der Erzähler als Vermittler zwischen Film und Publikum, fast wie ein höfischer Chronist, der uns die wahren Begebenheiten zuflüstert.

Kubrick hat mit diesem Einsatz des Voice-overs einen bewussten Gegensatz zum Roman gewählt. In Thackerays Buch erzählt Barry Lyndon selbst (auf prahlerisch-verlogene Weise) seine Geschichte, was literarisch viel Ironie erzeugt. Kubrick meinte jedoch, im Film könne man den unzuverlässigen Erzähler nicht ebenso verwenden, da das Publikum die objektiven Bilder sieht und ein lügender Off-Text eher als Parodie wahrgenommen würde. „Es hätte als Komödie funktionieren können – durch die Juxtaposition von Barrys Version und der Realität im Bild – aber ich denke, Barry Lyndon sollte nicht als Komödie gemacht werden“, sagte er . Also wählte er einen allwissenden, im Tonfall neutralen Erzähler. Neutral heißt hier: emotionslos, aristokratisch unterkühlt, aber eben nicht allwissend-göttlich im Sinn einer moralischen Instanz, sondern eher chronistisch und mit feinem Augenzwinkern. Die Figur des Erzählers selbst tritt nie in Erscheinung; er bleibt namenlos. Doch in seiner Wortwahl (besonders in der englischen Fassung) klingt er wie ein vornehmer Gentleman des 19. Jahrhunderts, der aus historischen Aufzeichnungen zitiert. Damit verleiht er dem Film nochmals eine literarische, zeitgenössische Ebene – die Geschichte von Barry Lyndon wirkt tatsächlich wie eine Episode, die später in einem Almanach oder Geschichtsbuch nachzulesen ist.

In der Rezeption von 1975 wurde dieser Einsatz der Off-Stimme kontrovers gesehen. Einige empfanden ihn als zu dominant und die emotionale Identifikation störend. Wie Rolling Stone anmerkte, war der „lethargische Erzähler, der mehr als einmal entscheidende Details vorwegnimmt und so jede Spannung im Keim erstickt“, sicherlich ein Grund dafür, dass viele den Film als langweilig empfanden. Denn er widerspricht den Konventionen des Hollywood-Kinos, das typischerweise die Handlung mit Überraschungen und emotionaler Zuspitzung trägt. Kubrick allerdings war es wichtiger, den Modellcharakter der Geschichte sichtbar zu machen, als das Publikum in Thrill zu versetzen. So kann man das Voice-over auch als Teil seines experimentellen Ansatzes sehen, mit dem er das Genre Kostümfilm reflektierte und durchbrach. Heute erkennt man darin eher die Raffinesse: Die Erzählstimme in Barry Lyndon gehört zu den denkwürdigsten Voice-overs der Filmgeschichte, weil sie so untypisch funktioniert – nicht wie die innere Stimme eines Helden, auch nicht wie der moralische Richter, sondern wie ein eleganter, aber leicht spöttischer Geschichtenerzähler am Kamin, der uns distanziert, aber doch fasziniert durch ein vergangenes Leben führt.

Kubricks Intentionen und thematische Ebene
Hinter Kubricks enormem Aufwand für Details und Ästhetik stand eine klare künstlerische Absicht. Er wollte mit Barry Lyndon kein gewöhnliches Historiendrama, sondern eine nahezu immersive Zeitreise schaffen. Sein Ziel war es, dass der Zuschauer sich optisch und emotional ins 18. Jahrhundert versetzt fühlt – als hätte ein Regisseur jener Epoche selbst den Film gedreht. Dies spiegelt sich in allen Entscheidungen wider: der authentischen Ausstattung, der Verwendung historischer Musik, der Kerzenlicht-Technik. Kubrick plante ursprünglich einen Film über Napoleon und hatte dafür jahrelang Material gesammelt. Nachdem dieses Projekt scheiterte, floss viel von dieser akribischen Recherche in Barry Lyndon ein. Er war fasziniert von der Möglichkeit, die Schönheit der Kunst jener Zeit im Medium Film zum Leben zu erwecken: „Ich versuchte, die Schönheit barocker Malerei und Musik filmisch erlebbar zu machen und das Leben jener Zeit authentisch wiederzugeben“ , so Kubrick. Tatsächlich ist Barry Lyndon weniger ein Film über das 18. Jahrhundert als ein Film, der die Kunst des 18. Jahrhunderts feiert und durchdringt.

Doch Kubrick ging es nicht um romantische Verklärung. Sein Blick auf die Epoche ist distanziert, analytisch – man könnte sagen: aufklärerisch im wörtlichen Sinne, nämlich aufdeckend. Schon in der ersten Minute deutet er eines seiner wiederkehrenden Themen an: die Machtlosigkeit des Menschen gegenüber einem größeren Plan. Der Tod von Barrys Vater gleich zu Beginn wird ohne melodramatische Gefühlsregung geschildert; die Kamera bleibt weit weg, als wolle sie sagen: Seht, es geschieht, aber die Welt dreht sich weiter, ungerührt. Diese Idee, dass persönliche Schicksale im großen Rad der Geschichte klein und unwichtig sind, zieht sich durch den Film. Kubrick rekonstruierte zwar das Zeitalter mit unerhörter Akribie, aber er schafft gleichzeitig eine spürbare Distanz zwischen dem Geschehen und dem heutigen Zuschauer . Indem er die historische Realität so konsequent nachbildet (z.B. das Kerzenlicht), entsteht eine Fremdheit, die uns bewusst macht, wie weit weg diese Zeit ist – beinahe unüberbrückbar. Diese Fremdheit war durchaus beabsichtigt: Sie fungiert als Kontrast zur Idee der Aufklärung, alles hell und verständlich zu machen . Kubrick zeigt eine Vergangenheit, die wie ein versiegeltes Gemälde ist – wir können sie bestaunen, aber nicht mehr ganz hineingelangen. In gewisser Weise ist Barry Lyndon somit auch ein Film über die Vergänglichkeit: „Was bleibt, ist Kunst, die eine längst vergangene Welt immer wieder neu erfahren lässt“, heißt es treffend in einer Analyse. Kubrick scheint zu suggerieren, dass nur durch Kunst (hier: durch Film als lebendiges Gemälde) diese Epoche trotzig gegen das Vergessen behauptet werden kann . Doch zugleich zeigt er die Kluft: Trotz aller Perfektion wirkt die vergangene Welt seltsam entrückt und unwirklich, als schaue man durch ein vergilbtes Fenster in eine andere Zeit.

Themenatisch verhandelt Kubrick in Barry Lyndon klassische Motive: Ambition, Klasse, Schicksal, Schein vs. Sein. Redmond Barry ist der Archetyp des Emporkömmlings, des Außenseiters, der in die feine Gesellschaft eindringt. Doch Kubrick erzählt seine Geschichte ohne die üblichen romantischen Verbrämungen. Barry ist kein Robin Hood und auch kein raffiniert-boshafter Soziopath – er ist, wie Kubrick sagte, „naiv und ungebildet, getrieben von unbändigem Ehrgeiz nach Reichtum und sozialer Stellung“ . Diese Mischung führt ihn ins Unheil, und auch die Menschen um ihn herum leiden darunter. Thackeray nannte das Buch „einen Roman ohne Helden“, und Kubrick inszeniert entsprechend einen Film ohne Identifikationshelden. Wir betrachten Barry eher von außen, als Beispiel für jemanden, der unbedingt nach oben will und daran zerbricht. Darin liegt ein gewisser sozialkritischer Pessimismus: Es scheint irrelevant, ob jemand Talent oder moralische Qualitäten hat – entscheidend ist die Geburt. Barry versucht, dieses System zu überlisten, aber letztlich scheitert er genau an den rigiden Regeln der Klasse, in die er nicht hineingeboren wurde. Kubrick zeigt also die Gesellschaftsordnung des 18. Jahrhunderts als ein festgefügtes Gefüge, in dem Außenseiter allenfalls temporär geduldet werden, bis die Ordnung sich wieder herstellt (am Ende sitzt Barry verarmt im Exil, während Lady Lyndon und Bullingdon in ihren Kreisen rehabilitiert sind).

Dieser deterministische Unterton – dass jeder an seinen Platz verwiesen wird – fügt sich in Kubricks generelle Weltsicht, die oft als düster oder nihilistisch beschrieben wird. Allerdings besteht hier ein Unterschied: Barry Lyndon enthält auch Momente echter Menschlichkeit und Empathie, besonders in Barrys Liebe zu seinem Sohn. Diese zärtlichen Szenen (etwa wenn Barry mit dem kleinen Bryan auf dem Hügel spielt) sind die wenigen Farbkleckse von unverfälschter Emotion im Film. Dass Kubrick sie drin lässt und sogar betont (umso tragischer dann Bryans Tod), zeigt, dass er durchaus Mitgefühl für seine Figuren hat. Doch in der Gesamtschau bleibt die Aussage bitter: Am Ende sind alle Charaktere gleich – jetzt, da sie tot sind . Dieser letzte Satz des Epilogs (direkt Thackerays Roman entnommen) kann als zynisch-nihilistische Pointe gelesen werden oder als memento mori, je nach Interpretation. Kubrick selbst spielte die tiefere Bedeutung herunter und meinte, es sei „nur ein ironischer Nachsatz aus dem Roman“ . Aber natürlich hat er ihn bewusst als Schlusssatz gewählt, und er hallt nach: All die Kämpfe, all das Streben – letztlich enden wir alle im Staub der Geschichte.

Kubrick interessierte an der Epoche der Aufklärung weniger der historische Optimismus als ihr Modellcharakter für geistige Prinzipien. Er sah in der Vernunftverherrlichung der Aufklärung offenbar auch eine gewisse Leere. Barry Lyndon kann man als Kubricks Reflexion über die Grenzen der Vernunft lesen: Der Film ist inszenatorisch kühl, rational, „vernünftig“ in seinem Aufbau – doch was zeigt er? Eine Welt ohne echte Wärme, in der Vernunft oft nur Gleichgültigkeit bedeutet. Kubrick ließ die Emotionen in der Darstellung zunehmend erlöschen – vielleicht eine Analogie zur „reinen Vernunft“, die zwar Klarheit bringt, aber auch Entzauberung. Einige Interpreten meinen, Kubrick habe die Aufklärung deshalb fasziniert, weil sie zwar Glanz und Fortschritt brachte (wissenschaftlich, kulturell), aber eben auch die Gefühlskälte einer streng rationalen Sicht auf Menschen . In seinen Filmen taucht immer wieder das Motiv der Entmenschlichung durch Rationalität oder Autorität auf (man denke an 2001 mit dem kalten Computer HAL oder A Clockwork Orange mit der Verhaltenskonditionierung). In Barry Lyndon äußert sich dies subtil in den zwischenmenschlichen Beziehungen: Statt echter Individualität sieht man viel Rolle und Fassade; Individualität und Moral waren dem Jahrhundert ein Gräuel, der schöne Schein war alles, wie es in einer Analyse heißt. Barry und Lady Lyndon versuchen, „reine Form ohne Inhalt, Masken ohne Charakter“ zu werden – ganz im Stil ihrer Epoche. Kubrick schildert damit ein Zeitalter, in dem das Äußere triumphiert und Innerlichkeit verdrängt wird. Dies kann man als Kritik an der Gesellschaft des 18. Jh. lesen, aber auch als zeitlose Aussage über menschliche Gesellschaften, in denen Status und Oberfläche oft wichtiger sind als Tugend und Wahrheit.

Natürlich sind Kubricks Intentionen nie monokausal. Er war in erster Linie ein visueller Geschichtenerzähler und hat selbst gesagt, er verliebe sich einfach in Geschichten, ohne immer genau rationalisieren zu können warum . Bei Barry Lyndon aber kann man klar erkennen, was ihn reizte: die interessanten visuellen Möglichkeiten der Vorlage – so nannte Kubrick es selbst – und die Herausforderung, einen historischen Film ganz anders zu gestalten als üblich. Das Werk ist im Grunde Kubricks subjektive Vision des 18. Jahrhunderts, aber zugleich ein Kommentar über die Natur von Geschichte und Schicksal. Indem er den Zuschauer zum distanzierten Beobachter macht, entlässt er uns aus der typischen emotionalen Vereinnahmung. Wir sind aufgefordert, selbst Urteile zu fällen, Parallelen zu sehen, vielleicht uns zu fragen: War diese Zeit wirklich so anders als unsere? Sind die Menschen heute freier, individueller? Oder sind wir nur in anderen Kostümen die gleichen Rädchen im großen Getriebe?

Kubrick selbst war gewiss kein Nihilist im Sinne völliger Verneinung, aber seine Filme – auch Barry Lyndon – zeigen immer eine Spannung zwischen dem Wunsch zu glauben (an Fortschritt, an Sinn) und der Ernüchterung, dass vielleicht nichts Wesentliches sich ändert. Die epische Erzählung von Redmond Barry endet ohne Katharsis, ohne klare Moral. Man könnte sagen, Kubrick hat uns ein prachtvolles, betörendes Gemälde gezeigt und am Schluss in kleiner Schrift daruntergesetzt: „All the characters are now all equal.“ – Macht euch euren Reim darauf.

Rezeption und filmhistorische Einordnung
Barry Lyndon stieß bei seinem Kinostart 1975 auf ein geteiltes Echo. Kritiker lobten einhellig die visuelle Brillanz, die Kameraarbeit von John Alcott, das penible Produktionsdesign von Ken Adam und die authentischen Kostüme von Milena Canonero – all diese Gewerke wurden dann auch mit Oscars prämiert. Richard Schickel schrieb im Time Magazine, Kubrick demonstriere hier eine „einzigartige Vision, eine reife Meisterschaft seines Metiers und beinahe tollkühnen Mut“, was wohl die Zeit als letztlich großes Kino-Gemälde bestätigen werde. Man war sich weitgehend einig, dass Barry Lyndon bildlich „die vielleicht hinreißendsten Bildkompositionen überhaupt auf die Leinwand“ bringt und eine neue Referenz für historische Filme setzte. Gleichzeitig reagierten viele zeitgenössische Zuschauer und Kritiker irritiert oder unterkühlt. Das langsame Erzähltempo, die distanzierte Haltung und die Länge des Films (über 3 Stunden) führten dazu, dass das Urteil zunächst verhalten ausfiel. Manche empfanden das Werk als zu introspektiv und schwermütig. Insbesondere in den USA tat sich das Publikum schwer: Nachdem Kubrick zuvor mit Dr. Seltsam, 2001 und Uhrwerk Orange drei kontroverse, aber popkulturell wirkmächtige Filme in Folge geschaffen hatte, passte der „überlange Historienstreifen“ nicht so recht ins Schema. An den Kinokassen spielte der Film sein Budget zunächst nicht wieder ein – es war Kubricks einziger kommerzieller Flop, was sogar zur Folge hatte, dass das Studio ihn fortan zu Testvorführungen verpflichtete.

In Deutschland und Europa hingegen fand der Film schon damals etwas mehr Verständnis. Das Lexikon des internationalen Films etwa lobte Kubricks „konsequenten Stilwillen“ und den bis ins Detail künstlerisch kontrollierten Aufwand, der Barry Lyndon zu einem „großen, vielschichtigen Zeitporträt“ mache, in dem private und gesellschaftliche Dimensionen nahtlos verbunden sind . Die Wochenzeitung Die Zeit hob Kubricks epische visuelle Pracht hervor, die selbst den „delirischen Trip zu den Sternen“ in 2001 in den Schatten stelle. Gelobt wurde auch Kubricks Mut, Thackerays Vorlage treu zu bleiben, aber sie filmisch geschickt zu straffen – etwa durch die Erfindung des dramatischeren Endes mit dem Duell, das im Roman so nicht vorkommt. In der New York Times zeigte man sich erstaunt, dass ein derart unkonventioneller Kostümfilm überhaupt finanziert und ins Kino gebracht wurde – was als so verblüffend bezeichnet wurde wie der Film selbst. Doch neben solcher Anerkennung standen harsche Stimmen: Die renommierte Kritikerin Pauline Kael etwa fand den Film schön, aber seelenlos – als würde man drei Stunden lang jemandes aufwendig dekorierten Salon betrachten. Einige warfen Kubrick vor, er habe mehr an Oberfläche als an Figuren interessiert, der Film sei kalt und leer hinter der Fassade.

Über die Jahrzehnte hat sich der Ruf von Barry Lyndon jedoch deutlich gewandelt. Heute gilt der Film als Meisterwerk des Autorenkinos der 70er und als einer der besten Kubrick-Filme überhaupt. Das British Film Institute nahm ihn 2016 zum 41. Jubiläum wieder ins Kinoprogramm und viele spätere Filmemacher nannten ihn als Einfluss. 2005 schaffte es Barry Lyndon in die Time-Liste der 100 besten Filme aller Zeiten. Besonders die Fachwelt der Kameraleute bewundert ihn: Die Kerzenlicht-Technik und die malerische Komposition sind legendär und werden in Filmuniversitäten als Lehrbeispiele analysiert. Kaum ein Artikel über „Natural Lighting“ im Film kommt ohne Verweis auf Barry Lyndon aus. Mit den Jahren erkannte man, dass Kubricks Wagnis, ein großes Kostümdrama in der Ästhetik eines Kunstfilms zu drehen, Pioniercharakter hatte. Der Rolling Stone betitelte den Film rückblickend als „schönsten Film aller Zeiten“ und plädierte dafür, ihn als das zu würdigen, was er auch ist: den vielleicht „kostspieligsten und mutigsten Experimentalfilm aller Zeiten“.

Filmhistorisch nimmt Barry Lyndon eine Sonderstellung ein. Er kam in einer Dekade heraus, in der Historienfilme eher aus der Mode waren zugunsten aktuellerer, kritischer Stoffe. Dennoch fügt er sich in das Autorenkino jener Ära ein, wo Regisseure große Freiheiten genossen und persönliche Visionen umsetzen konnten. Kubrick nutzte diese Freiheit maximal: Er drehte ohne Rücksicht auf gängige Sehgewohnheiten, mit enormem Produktionsaufwand und Perfektionismus. Das Ergebnis war seiner Zeit vielleicht voraus. Martin Scorsese – selbst ein Meisterregisseur – bekannte: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich einen Lieblings-Kubrick-Film habe, aber irgendwie kehre ich immer wieder zu Barry Lyndon zurück. […] Die Leute haben ihn nicht verstanden, als er herauskam. Viele tun es bis heute nicht.“ Für Scorsese ist der Film ein „zutiefst emotionales Erlebnis“ – vermittelt durch Kamerabewegung, langsames Tempo und das Zusammenspiel von Figuren und Umgebung, „ein Bild schöner als das nächste“, hinter dessen eleganter Fassade die Grausamkeit der Gesellschaft spürbar werde. Solche Würdigungen zeigen, dass Barry Lyndon inzwischen als das erkannt wird, was Kubrick vorschwebte: ein audiovisuelles Kunstwerk von großer emotionaler Wucht – aber einer Wucht, die unter der Oberfläche liegt.

Auch Kritiker, die den Film einst kühl sahen, änderten teils ihre Einschätzung. Das oft bemängelte langsame Erzähltempo wird heute eher als konsequenter Kunstgriff gesehen. Roger Ebert etwa schrieb in einer späteren Rezension, Barry Lyndon verlange Geduld, aber belohne den Zuschauer mit einem Gefühl, tatsächlich in eine vergangene Epoche eingetaucht zu sein. Die Distanz, so Ebert, erlaube es, über die Figuren und ihre Zeit nachzudenken, statt nur mitzufiebern – was einen tieferen Eindruck hinterlasse.

Zudem wurde im Nachhinein offenbar, wie einflussreich der Film war: Viele Regisseure von Historienfilmen – von Ridley Scott über Joe Wright bis zu Yorgos Lanthimos – haben Anleihen bei Kubricks Inszenierungsstil genommen, sei es die natürliche Beleuchtung, die gemäldeartigen Tableaus oder die ironische Verwendung von Musik.

In Kubricks eigener Filmografie markiert Barry Lyndon einen Abschluss und Übergang: Es war sein letzter „period piece“ und der stilistisch opulenteste Film. Danach wandte er sich mit Shining und Full Metal Jacket wieder moderneren Settings zu. Manche vermuten, die zunächst lauwarme Resonanz habe ihn ernüchtert, sodass er nie wieder ein so reines Kunstprojekt wagte. Dennoch gewann Barry Lyndon vier Oscars (Kamera, Ausstattung, Kostüm, adaptierte Musik) und festigte Kubricks Reputation als kompromissloser Auteur. Heute wird der Film oft in einem Atemzug mit Kubricks Großtaten genannt, und sogar populärkulturell taucht er auf (z.B. referenzieren Serien wie The Simpsons oder Family Guy humorvoll die ikonische Duell-Szene).

Zusammenfassend lässt sich sagen: Barry Lyndon wurde vom missverstandenen Stiefkind zu einem strahlenden Juwel des Weltkinos. Was beim Erscheinen als Schwäche angesehen wurde – die strenge Form, die Langsamkeit, die Kühle – wird nun als Stärke erkannt, als Ausdruck einer konsequenten Vision. Kubricks Intentionen, einen Film wie ein lebendes Gemälde zu schaffen und den Geist einer Epoche einzufangen, gelten als erfüllt. Barry Lyndon ist heute ein Referenzwerk der Filmästhetik: ein Beweis dafür, dass Kino nicht nur Geschichten erzählen, sondern auch Geschichte erfahrbar machen kann – mit allen Sinnen und auf tiefgründige, nachdenkliche Weise. Es ist ein Film, der Zeit braucht, aber Zeitlosigkeit erreicht hat.

Corgi CC04701 – Der legendäre Lotus Esprit Turbo aus „James Bond: For Your Eyes Only“

9. Dezember 2025

Als Sammler von Corgi-Bond-Modellen musste ich natürlich den Lotus haben.Der Corgi CC04701 ist eine detailreiche Modellnachbildung des legendären Lotus Esprit Turbo aus dem Bond-Film For Your Eyes Only. Im Maßstab 1:36 gefertigt, bildet dieses Die-Cast-Modell das charakteristische Design des Originals getreu ab — von der sportlich-schlanken Karosserie über die Felgen bis hin zu Außenspiegeln und Innenraumdetails.

Das Modell wirkt besonders hochwertig: Für Sammler gedacht, überzeugt es durch gute Proportionen und eine saubere Lackierung, die den ikonischen Look aus dem Film einfängt. Manche Varianten kommen mit Zubehör wie Dachskiern — eine Referenz an Bonds Einsatz in verschneiten Gebirgen — was den Wiedererkennungswert noch steigert.

Ein weiteres Merkmal: Der Corgi-Hersteller, bekannt für seine Film- und Serien-Modellautos, fertigt dieses Modell in der Tradition klassischer Die-Cast-Fahrzeuge. Für Fans der 007-Reihe und Modellauto-Sammler ist dieses Exemplar ein schönes Stück Filmgeschichte — ideal zum Ausstellen, für Sammler-Vitrinen oder als Geschenk für Liebhaber von Bond-Cars.

Der Modellwagen Corgi CC04701 Lotus Esprit Turbo aus dem James-Bond-Film For Your Eyes Only besitzt ein solides Sammler- und Wertsteigerungspotential, da er nicht mehr regulär produziert wird und somit nur noch auf dem Zweitmarkt erhältlich ist.

Exemplare in gutem Zustand werden derzeit meist im Bereich von etwa 50 bis 55 Euro gehandelt, während Modelle im neuwertigen Originalzustand inklusive Verpackung häufig zwischen 20 und 30 Euro liegen. Sein Reiz ergibt sich vor allem aus der Verbindung zur ikonischen James-Bond-Reihe, die in der Sammlerszene seit Jahrzehnten eine konstante Nachfrage erzeugt. Der Wiedererkennungswert des Lotus Esprit Turbo, kombiniert mit der Tatsache, dass Filmfahrzeuge traditionell zu den begehrtesten Die-Cast-Modellen gehören, unterstützt diese Nachfrage zusätzlich. Wie bei den meisten Sammlerstücken spielt der Zustand eine zentrale Rolle:

Originalverpackung, unbeschädigte Lackierung und vollständige Details können den Preis deutlich erhöhen, während Gebrauchsspuren den Wert beeinflussen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass dieses Corgi-Modell ein attraktives Objekt für Bond-Fans sowie Modellautosammler ist und aufgrund seiner begrenzten Verfügbarkeit langfristig ein interessantes Wertsteigerungspotenzial besitzt.

Persönliche Geburtstagswünsche an Hans-Jürgen Syberberg zum 90. Geburtstag

8. Dezember 2025

Einer meiner filmischen Helden wird heute 90. Jahre alt und ich gratuliere tief bewegt zum Geburtstag: Hans-Jürgen Syberberg. Bis auf ein kurzes Hallo habe ich Hans-Jürgen Syberberg nie persönlich kennengelernt. Ich war einmal bei der Tochter mit Freunden zu Gast als der Meister hereinschaute und ich zu doof war, ihn zu erkennen. Jahre später besorgte mir ein Kumpel über seine Tochter ein Autogramm, was in meinem Arbeitszimmer hängt. Für mich ist Hans-Jürgen Syberberg ein wirklicher Held des Kinos. Er hat viele Filme gedreht. Persönlich sind für mich Parsifal und Winifred Wagner und die Geschichte des Hauses Wahnfriedd seine Meisterwerke.

Parsifal
Hans-Jürgen Syberbergs Parsifal ist ein filmisches Monument, ein Werk, das sich jeder einfachen Einordnung entzieht und gerade deswegen so überwältigend wirkt. In diesem Film bündelt Syberberg all das, was sein Schaffen seit den 1970er-Jahren geprägt hat: den Mut zur ästhetischen Radikalität, die kompromisslose Auseinandersetzung mit deutscher Kultur und Geschichte, und den Glauben daran, dass Film mehr sein kann als Illusion – nämlich ein metaphysischer Raum, ein innerer Kontinent. Leider ist der Film nur auf DVD erschienen. Ich habe noch die signierte Langspielplatte und das Filmbuch.

Sein Parsifal aus dem Jahr 1982 ist keine Verfilmung der Oper Richard Wagners im klassischen Sinne. Es ist vielmehr eine Beschwörung, ein rituelles Sich-Hineinbewegen in den Kern des Mythos. Syberberg hebt die Oper nicht nur ins Filmische, er seziert und überhöht sie zugleich. Bühnenbilder werden zu Symbolwelten, Requisiten zu Metaphern, und die Kamera wird zum schweifenden Blick eines Wanderers, der durch eine Traumlandschaft aus deutscher Kulturgeschichte streift. Figuren sind weniger Charaktere als Archetypen, und mittendrin entfaltet sich Parsifals Reise – eine Seelenwanderung, die sich vor den Augen des Publikums fast wie ein Gebet entwickelt.

Syberberg schafft Bilder, die nicht nur gesehen, sondern empfunden werden wollen: das Dunkel, aus dem plötzlich Lichtkegel schneiden; die ikonischen, manchmal verstörenden Arrangements; die stille Größe der Tableaux, die lange im Gedächtnis nachhallen. In einer Zeit, in der sich der Film mehr und mehr von großen symbolischen Erzählungen entfernte, wagte Syberberg das Gegenteil: Rückkehr zum Mythos, zur großen Form, zur metaphysischen Frage nach Schuld, Erlösung, Identität. Parsifal wird dadurch zu einem Film über Deutschland – und über den Menschen überhaupt.

Doch Syberbergs Leistung erschöpft sich nicht in diesem Werk. Sein Gesamtœuvre erzählt von einer beharrlichen Suche nach dem Umgang mit Geschichte und Erinnerung. Bereits Ludwig – Requiem für einen jungfräulichen König (1972) war ein filmischer Traum, ein elegisches, fast schwebendes Porträt des Märchenkönigs, das historisches Material und poetische Vision miteinander verbindet. Mit Hitler – Ein Film aus Deutschland (1977) schuf er ein gigantisches, siebenstündiges opus magnum, das als eines der mutigsten, kontroversesten und zugleich bedeutendsten filmischen Projekte der Nachkriegszeit gilt. Hier verschränkt er Theater, Puppenspiel, Archivmaterial, Bühnenmagie und symbolische Überfrachtung zu einer radikal subjektiven Begegnung mit dem deutschen Trauma. Kein Regisseur zuvor oder danach hat es gewagt, Hitler so zu „inszenieren“ – nicht als Person, sondern als kulturellen Schatten, der das kollektive Gedächtnis durchdringt.

Sein Werk folgt dabei nie den Regeln des Mainstream-Kinos. Syberberg ist ein Solitär – ein Künstler, der unbeirrt seinen eigenen Weg verfolgt, auch wenn dieser steinig ist. Seine Filme sind Kunstinstallationen, Gedankenräume, ästhetische Expeditionen. Sie fordern Geduld, Aufmerksamkeit, Hingabe. Und sie belohnen mit Momenten von atemberaubender Schönheit und geistiger Tiefe.

Wenn man Syberbergs Leistung würdigt, würdigt man nicht nur einen Regisseur, sondern einen Visionär. Einen Künstler, der sich weigert, einfache Antworten zu geben. Der den Mut hat, das Dunkle zu zeigen, um das Helle überhaupt sichtbar zu machen. Der glaubt, dass Film heilen kann – nicht durch Vergessen, sondern durch Anschauen, durch Bewusstwerden, durch das schmerzhafte, aber notwendige Hinsehen.

Parsifal ist in diesem Sinne vielleicht sein reinster, poetischster Film. Ein Werk, das tröstet und gleichzeitig verstört. Ein Film, der von der Sehnsucht nach Erlösung erzählt – und von der unerschütterlichen Hoffnung, dass Kunst ein Weg dorthin sein kann.

Winifred Wagner und die Geschichte des Hauses Wahnfried
Hans-Jürgen Syberbergs Dokumentarfilm „Winifred Wagner und die Geschichte des Hauses Wahnfried“ ist eines der eindringlichsten, mutigsten und zugleich intimsten filmischen Zeitzeugnisse des 20. Jahrhunderts. Mit derselben schonungslosen Offenheit, derselben poetischen Wucht und demselben melancholischen Blick auf die deutsche Kulturgeschichte, die sein Gesamtwerk durchzieht, wagt Syberberg sich hier an eine Person, deren Name wie kaum ein anderer im Spannungsfeld zwischen Genieverehrung, politischer Blindheit und moralischem Abgrund steht.

Winifred Wagner, Schwiegertochter des Komponisten Richard Wagner und Hüterin des Hauses Wahnfried, öffnet Syberberg im Film eine Tür, die man kaum für möglich hält. Über Stunden hinweg spricht sie – frei, ungeschützt, ohne das Bedürfnis nach Rechtfertigung. Und Syberberg hört zu. Er bedrängt nicht, er verurteilt nicht; er lässt einen Raum entstehen, in dem Winifreds Erinnerungen, Verdrängungen, Treuebekundungen und unerschütterliche Überzeugungen sichtbar werden. Ihr ungebrochener Glaube an Adolf Hitler, ihre Verklärung einer Zeit, die millionenfaches Leid brachte – all das legt sich offen vor die Kamera. Es ist kein Porträt der Anklage, sondern eines der entwaffnenden Selbstdarstellung.

Syberbergs Leistung besteht in dieser besonderen Art des Zuhörens. Er erlaubt der Protagonistin, sich selbst zu zeigen – und darin zeigt sich alles. Der Film wird so zu einem moralischen Brennspiegel, der nicht durch Agitation, sondern durch das gesprochene Wort erschüttert. Da sitzt eine Frau, die sich ihr Leben lang als Hüterin eines künstlerischen Erbes verstand, als Vermittlerin zwischen Vergangenheit und Zukunft, und die gleichzeitig einem politischen Wahn verfallen war, dessen Tragweite sie nie begriff. Syberberg macht diese Ambivalenz nicht erklärbar – er macht sie erfahrbar.

In den langen Einstellungen, in der ruhigen Kamera, in der ungefilterten Präsenz Winifreds entsteht ein Gefühl, das selten im Dokumentarfilm gelingt: Man betritt eine Atmosphäre. Das Haus Wahnfried wird darin zum Symbol – ein Ort, an dem Kunst, Ideologie, Sehnsucht und Irrtum untrennbar miteinander verwoben sind. Syberberg verknüpft die Geschichte des Hauses mit der Stimme Winifreds, mit den Schatten der Vergangenheit, die über Bayreuth liegen, und mit den Fragen, die auch sein übriges Werk durchziehen: Was macht der Mythos aus dem Menschen? Und was macht der Mensch aus dem Mythos?

Wie schon in Hitler – Ein Film aus Deutschland oder seinem Parsifal arbeitet Syberberg nicht mit klassischen dokumentarischen Methoden. Er will nicht erklären – er will offenlegen. Er nimmt das Publikum mit hinein in die innere Welt seiner Figuren und in die symbolische Landschaft, die sie umgibt. Winifred Wagner wird dadurch nicht entschuldigt, aber verständlich gemacht: als Teil eines historischen Gefüges, als Trägerin eines Erbes, als Mensch in einer Mischung aus Stolz, Verblendung und ungebrochener Verehrung.

Die Dokumentation ist dadurch ein erschütterndes, gleichzeitig faszinierendes Werk. Sie trägt jene emotionale Intensität, die Syberbergs Filmkunst auszeichnet: ein langsames, aber gnadenlos ehrliches Sezieren der Vergangenheit. Und sie ist ein wichtiger Baustein in seinem Gesamtwerk, das immer wieder darum kreist, wie Deutschland mit seinen Mythen, seinen Künstlern, seinen Ideologien und seinen eigenen Schatten umgeht.

Syberbergs Film über Winifred Wagner ist ein Dokument der Wahrheit – nicht im journalistischen, sondern im tief existenziellen Sinne. Ein Werk, das zeigt, dass Erinnerung kein einfaches Terrain ist. Und dass der Mut, jemanden wirklich aussprechen zu lassen, manchmal die brutalste Form der Aufklärung sein kann.

Hans-Jürgen Syberberg bleibt für mich eine der großen, unbeugsamen Stimmen des deutschen und europäischen Kinos. Eine Stimme, die man nicht überhören kann – und nicht überhören sollte.

Ein Leben für den Nervenkitzel – Alfred Hitchcock und die Macht der Emotionen Vortrag am Mittwoch, 3. Dezember

2. Dezember 2025

Ich freue mich auf mein anstehenden Vortrag im Rahmen der Maisacher Gespräche zur Popkultur (MGP) in der Gemeindebücherei Maisach. Am Mittwoch, 3. Dezember spreche ich um 18 Uhr zum Thema Ein Leben für den Nervenkitzel – Alfred Hitchcock und die Macht der Emotionen. Der Eintritt ist frei. im ganzen Gemeindegebiet wurde plakatiert.

Es gibt Filme, die man betrachtet – und es gibt Filme, die einen betrachten. Das Werk Alfred Hitchcocks gehört zweifellos zur zweiten Kategorie. Wer seine Filme sieht, wird nicht nur Zeuge einer Geschichte, sondern gerät unweigerlich in einen Sog, in eine psychologische Spirale, die sich unbemerkt um das eigene Bewusstsein legt. Hitchcock verstand das Kino nicht als Abfolge bewegter Bilder, sondern als gigantisches Nervensystem, das die Zuschauer direkt an ihre Gefühle anschloss. Er war Regisseur, Architekt und Psychologe zugleich, ein Meister, der nicht nur Geschichten erzählte, sondern die Seele seiner Betrachter sezierte. Seine Filme wirken wie Spiegel – sie zeigen uns weniger die Figuren auf der Leinwand als unsere eigenen Ängste, Begierden und Abgründe.

Hitchcock wusste, dass Angst nicht dort entsteht, wo das Monströse sichtbar wird, sondern dort, wo es sich im Schatten versteckt – im Erwarteten, im Unausgesprochenen, in der Stille vor dem Schrei. Die Spannung, die man heute „Hitchcock’s suspense“ nennt, ist kein technischer Trick, sondern eine existenzielle Erfahrung. Wenn in Psycho die Duschszene beginnt, wenn die Geige sticht wie ein Messer, dann lauscht der eigene Herzschlag plötzlich lauter als die Musik. Die Szene erschreckt uns nicht, weil sie brutal ist, sondern weil sie uralte Gefühle weckt: Verletzlichkeit, Einsamkeit, das Unbekannte, das uns in einem Moment der Intimität überfällt. Hitchcock zeigte, dass Horror nicht im Monster liegt, sondern in uns selbst. Der wahre Schock ist, dass wir uns in jedem Opfer, in jedem Täter wiedererkennen könnten.

In Vertigo führte er die Sehnsucht, die Obsession und das Scheitern an der eigenen Fantasie in neue Tiefen. Diese Liebesgeschichte, die sich als Alptraum tarnt, entfaltet eine beklemmende Wirkung: Man spürt die Verlorenheit des Protagonisten nicht intellektuell, sondern körperlich. Das Spiel mit Realität und Illusion, mit der Frage, wie weit wir für unsere Sehnsüchte gehen, trifft mitten ins Herz. Hitchcocks Filme sind nie nur Handlung – sie sind emotionale Zustände. Sie lassen uns taumeln, sie ziehen uns hinein in Räume, in denen logische Erklärungen verblassen. Kino, so scheint Hitchcock zu sagen, ist kein Fenster zur Welt. Es ist ein Fenster zu uns selbst.

Sein Einfluss geht weit über Genres und Jahrzehnte hinaus. Jeder Thriller, der mit dem Ungewissen spielt, jeder Film, der den Atem anhält, jeder Moment, in dem man im Kinosessel vergisst, wer man neben sich hat oder wie spät es ist – all das trägt Spuren von Hitchcock. Die Vögel, dieses verstörende Lehrstück über das Einbrechen des Unbegreiflichen in den Alltag, ist exemplarisch dafür: Die Angst entsteht nicht durch das Federn und Flattern, sondern durch das Ausbleiben einer Antwort. Warum greifen die Vögel an? Hitchcock verweigert die Erklärung. Er entreißt uns die schützende Ordnung und zwingt uns, mit unserer eigenen Hilflosigkeit zu leben. So entsteht ein Gefühl, das uns lange nach dem Film verfolgt – etwas, das man nicht abschütteln kann, weil es aus dem Inneren kommt.

Hitchcock gelang das Unglaubliche: Er machte aus Kino eine emotionale Versuchsanordnung. Er vertraute nicht auf spektakuläre Effekte, sondern auf die Macht des Blicks, die Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen, den Puls des Zuschauers. Seine Kamera ist kein neutraler Beobachter, sondern ein neugieriges Wesen, das uns dorthin führt, wo wir eigentlich nicht hinsehen wollen. Manchmal zeigt sie zu viel, manchmal zu wenig – immer aber zwingt sie uns, die Geschichte aktiv mitzuerleben. Darin liegt Hitchcocks Zauber: Seine Filme passieren nicht vor uns, sondern mit uns.

Noch heute, Jahrzehnte nach seinem Tod, haben Hitchcocks Werke nichts von ihrer Kraft eingebüßt. Sie lassen uns erschauern, staunen, schwitzen. Sie machen uns zu Komplizen, zu Zeugen, zu Opfern unserer eigenen Ängste. Hitchcock hat das Kino nicht nur geprägt – er hat ihm eine neue Sprache gegeben: die Sprache der Ungewissheit, der Obsession, des psychologischen Vibrierns, das uns Grenzen vergessen lässt. Seine Filme wirken nach, wie ein Traum, dessen Bedeutung wir ahnen, aber nie ganz verstehen. Und vielleicht ist genau das die größte Wirkung Alfred Hitchcocks: Er hat uns gelehrt, dass das wahre Grauen, die wahre Faszination und die wahre Spannung nicht im Außen liegen, sondern in jenem tiefen, geheimen Raum, den wir Seele nennen.

Alfred Hitchcock fasziniert uns bis heute, weil er wie kein anderer Regisseur die Tiefen unserer Seele kannte – unsere Ängste, unsere Sehnsüchte, unsere Schuldgefühle. Seine Filme sind mehr als bloße Spannung: Sie sind ein Spiegel unserer inneren Abgründe. Hitchcock verstand es meisterhaft, das Alltägliche in Bedrohung zu verwandeln – ein harmloser Zug, ein Motel am Straßenrand, ein Vogelschwarm am Himmel. In seiner Welt lauert das Unheimliche immer dort, wo wir uns sicher wähnen.

Doch was uns wirklich gefangen nimmt, ist die psychologische Präzision, mit der Hitchcock seine Figuren – und damit uns – seziert. Er zwang uns, hinzusehen, auch wenn wir uns abwenden wollten. Er ließ uns mitschuldig werden, ließ uns zittern, hoffen, atmen und zweifeln. Seine Filme sind Lektionen in Emotion, Spannung und Moral – und zugleich zeitlose Studien über das Menschsein selbst.

Dass wir uns seiner Faszination nicht entziehen können, liegt vielleicht daran, dass Hitchcock nie einfach Angst zeigen wollte. Er wollte sie fühlbar machen. Und das gelingt ihm bis heute – jedes Mal, wenn sich der Vorhang hebt und wir uns unweigerlich fragen: Was, wenn das Böse längst in uns wohnt?

100. Geburtstag von Peter Thomas

1. Dezember 2025

Am 1. Dezember 2025 wäre Peter Thomas 100 Jahre alt geworden – ein Komponist, der wie kaum ein anderer die Klangwelt des deutschen Films und Fernsehens geprägt hat. „Peter Thomas war einer der größten Komponisten populärer Musik, die wir hatten – das Beispiel einer durchgehend unpeinlichen deutschen Künstlerexistenz“, würdigte ihn einst die Süddeutsche Zeitung.

Tatsächlich hat Thomas im Laufe seines über 50 Jahre währenden Schaffens die Musik zu rund 80 Spielfilmen und über 600 Fernsehproduktionen geschrieben. Seine Melodien entfalteten ihre Wirkung über Jahrzehnte hinweg und verbanden Generationen: Viele dieser Themes und Soundtracks sind bis heute Kult. Von den schaurig-spannenden Edgar-Wallace-Krimis bis zur actiongeladenen Agentenfilmreihe Jerry Cotton, von Straßenfeger-Serien wie Der Kommissar bis zu exotischen Abenteuern – stets verlieh Peter Thomas den Bildern mit seinen Einfällen eine unvergessliche musikalische Stimme.

Kein Wunder, dass man in ihm einen Soundtüftler sah, Deutschlands einfallsreichsten Filmkomponisten der 1960er und 1970er Jahre. Mit Innovationskraft, Herz und einem Augenzwinkern schuf er einen neuen Klangkosmos für die Nachkriegszeit. Ich durfte zusammen mit Markus Elfert vom Filmreport ein interessantes Interview mit seinem Sohn Philip führen dürfen.

Besonders leuchtend strahlt bis heute seine Komposition für die Science-Fiction-Serie „Raumpatrouille – Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion“ (1966). Diese Musik war in ihrer Art einzigartig und bahnbrechend. Thomas mischte hier Stile, die zuvor kaum zusammen gedacht wurden: treibende Beat-Rhythmen und Jazz-Grooves trafen auf Anklänge an klassische Musik und sogar Zwölfton-Klänge . Mit Mut zur Avantgarde integrierte er elektronische Effekte in den Orchesterklang – ein Novum im deutschen Fernsehen jener Zeit. Gleich zu Beginn der Titelmelodie ertönt ein Countdown, gezählt von Thomas’ eigener Stimme durch einen verzerrenden Vocoder – dies war eine der frühesten Anwendungen eines Vocoders in der Populärmusik überhaupt. Zusammen mit dem Tontechniker Hansjörg Wicha hatte Thomas sogar ein eigenes elektronisches Instrument entwickelt, das „ThoWiephon“, dessen spacige Klänge er hier einsetzte. Statt auf ein großes Symphonieorchester setzte er – auch aus Budgetgründen – auf eine kleine Bandbesetzung und machte „aus der Not eine Tugend“: Im Zentrum seines Orion-Sounds steht eine Hammond-Orgel, damals für viele Ohren ein ungewohnter Klang.

Mit ihrem schwebenden, vibrierenden Sound untermalte sie perfekt die unheimlichen und futuristischen Szenen. Diese ungewöhnliche Mischung verlieh Raumpatrouille Orion einen Soundtrack, der so futuristisch wie verspielt war – Musik „vom Mond“, wie Thomas es nannte, die das Publikum gleichermaßen in Staunen und in gute Laune versetzte. Unvergessen sind die bizarren Tanzszenen der Serie, zu denen Thomas eigens den Modetanz „Galyxo“ erfand – ein hüpfender Weltraum-Twist, der die Zuschauer schmunzeln ließ. Thomas’ Orion-Musik wirkte wie ein eigenes Besatzungsmitglied der Orion: Sie trug die Abenteuer am Rande der Unendlichkeit mit, gab ihnen Herzschlag und Humor und machte die Serie zu einer Legende der TV-Geschichte.

Doch Peter Thomas’ Schaffen beschränkte sich keineswegs nur auf ferne Galaxien – er war ebenso der Meister der Großstadtlichter, des kriminalistischen Nervenkitzels und sogar der heiteren Momente. Seine Soundtracks für die Edgar-Wallace-Filme der 1960er Jahre (beginnend mit Die seltsame Gräfin, 1961) begründeten seinen Ruf; mit swingenden Big-Band-Klängen, unheimlichen Orgelakkorden und ungewöhnlichen Geräuscheffekten schuf er in diesen Krimis eine unverwechselbare Atmosphäre. Insgesamt 18 Filme der Edgar-Wallace-Reihe vertonte er und wurde so zum Stammkomponisten dieser populären Gruselserie. Ich liebe den Soundtrack zum Heuler Die Schlangengrube und das Pendel.

Ebenso prägte er den Sound der acht Jerry-Cotton-Agentenfilme (1965–69) mit rasanten, jazzigen Rhythmen und spannungsgeladenen Themen – Musik, die den Puls der Zuschauer beschleunigte und den rauchigen Glamour des New Yorker Gangstermilieus ins heimische Kino holte. Mit diesen Werken avancierte Thomas zu Deutschlands führendem Komponisten für Kriminal- und Actionfilme jener Ära. Seine Kreativität kannte dabei keine Scheu vor kuriosen Einfällen: In einem Wallace-Titelsong wie “Der Hexer“ verarbeitete er schon mal das Jaulen von Hunden, gellende Schreie und Pistolenschüsse als Teil der Musik – Momente subtilen Humors und selbstironischer Augenzwinkerei, die den Hörer überraschten und doch bestens ins Klangbild passten. Diese spielerische Experimentierlust verlieh Thomas’ Krimi-Scores eine besondere Würze.

Auch im Fernsehen hinterließ Peter Thomas unauslöschliche Spuren. Für Serienklassiker wie „Der Kommissar“ (ab 1969), „Derrick“ (ab 1974) oder „Der Alte“ (ab 1977) steuerte er regelmäßig die Episodenmusik bei. Stets traf er den richtigen Ton für die Stimmung – mal melancholisch-nachdenklich, mal gespannt-düster, mal beschwingt. Seine Musik aus Der Kommissar fand sogar den Weg in die Hitparaden: Das Lied „Du lebst in deiner Welt“, gesungen von Daisy Door in einer Folge 1971, entwickelte sich zum Chart-Erfolg und verkaufte sich über 500.000 Mal. Es war ungewöhnlich, dass ein Stück Filmmusik als Single derartig einschlug – ein weiteres Zeugnis dafür, wie Thomas mit seinen Melodien direkt die Herzen des Publikums erreichte. Selbst in Genres wie Western, Komödie oder Dokumentation fühlte er sich zuhause – ob schmissige Marschmusik für abenteuerliche Cowboy-Geschichten oder experimentelle Klänge für Horror- und Sci-Fi-Stoffe, immer bewies er seine enorme stilistische Bandbreite. Dabei blieb Thomas’ Handschrift stets erkennbar: ein Gespür für eingängige Themen, eine Vorliebe für jazzige Harmonien und ein augenzwinkernder Esprit, der in vielen seiner Stücke mitschwingt.

Heute, ein Jahrhundert nach seiner Geburt, wird Peter Thomas als Legende gefeiert. Sein Einfluss auf das Genre des Soundtracks im deutschsprachigen Raum ist kaum zu überschätzen – er hat gezeigt, dass Filmmusik mutig neue Wege gehen kann, ohne ihre Emotionalität zu verlieren. Viele jüngere Komponisten und Bands haben sein Werk als Inspiration entdeckt; so sampelte etwa die britische Band Pulp einen seiner Orion-Titel (“Bolero on the Moon Rocks“) in einem Popsong, und Hollywood-Regisseur George Clooney verwendete Thomas-Kompositionen aus den 60er Jahren in Confessions of a Dangerous Mind (2002) . Wie ein Nachruf treffend bemerkte, lieferte Peter Thomas gewissermaßen „den Soundtrack der westdeutschen Nachkriegszeit“ – kaum ein bekanntes Kinoabenteuer oder eine TV-Serie der 60er und 70er, die nicht von seinen Klängen mitgetragen wurde. Seine Musik hat das Publikum durch ferne Welten geführt, es zum Lachen und Staunen gebracht und ganze Generationen begleitet. Voll Wärme, Witz und Wagemut erschuf Peter Thomas einen Klangkosmos, der bis heute nachhallt.

Besonders betonen möchte ich die Leistung des Stuttgarter Labels Allscore. Das Label beschäftigt sich mit Filmmusik und veröffentlicht unter anderem Werke des Komponisten Peter Thomas. Allscore veröffentlicht Soundtracks, insbesondere aus den 1960er und 1970er Jahren, sowie Musik aus Genres wie Cinematic Music, Beat, Surf und Lounge. Sobald hier eine neue Schallplatte erscheint, wird bestellt. Bitte mehr.

In diesem musisch-poetischen Sinne verneigen wir uns vor einem großen Maestro. Seine innovativen Klangexperimente, sein musikalischer Humor und seine unerschöpfliche Kreativität haben die deutschsprachige Filmmusik für immer bereichert. Auch wenn Peter Thomas selbst nicht mehr unter uns weilt – seine Melodien leben weiter: als Soundtrack unserer Erinnerungen, als Ohrwürmer und Gänsehaut-Themen, die uns immer wieder daran erinnern, was für ein Abenteuer gute Musik sein kann. Danke, Peter Thomas, für diese fantastischen Klangabenteuer. Und danke an Philip Thomas, das er das Erbe des Vaters weiter hochhält.

Die Welt von Mittelerde, Herr der Ringe und Tolkien: Mein Vortrag in der Maisacher Gemeindebücherei

25. November 2025

In der Gemeindebücherei Maisach durfte ich einen Abend gestalten, der mir persönlich sehr am Herzen liegt: einen Streifzug durch das Leben und Werk von J.R.R. Tolkien im Rahmen unserer „MGP Maisacher Gespräche zur Popkultur“. Schon die Begrüßung war für mich besonders – so viele vertraute Gesichter, so viel Wohlwollen. Und natürlich der Hinweis der Bücherei: Bücher von Tolkien bleiben im Bestand, die DVDs vielleicht nicht – ein schönes Sinnbild dafür, wie langlebig gute Literatur ist. Der nächste kostenlose Vortrag in der Gemeindebücherei ist am Mittwoch, 3. Dezember zum Thema Ein Leben für den Nervenkitzel – Alfred Hitchcock und die Macht der Emotionen. Beginn 18 Uhr.

Ich stellte als Tolkien-Fan vor, seit ich als Jugendlicher den „kleinen Hobbit“ in einem Italienurlaub verschlungen hatte. Während andere in den Gardasee sprangen, bin ich in Mittelerde abgetaucht. Diese Begeisterung begleitet mich bis heute – und sie begleitet auch meine Familie, die Herr der Ringe ebenso liebt, wenn auch manchmal lieber in der Filmversion. Hier ist die Aufzeichnung meines Vortrags.

An diesem Abend wollte ich aber vor allem eines: Tolkien dem Publikum näherbringen. Nicht den Kitsch, nicht die Merchandise-Maschinerie, nicht nur die großen Filme – sondern den Menschen dahinter. Ich erzählte von seiner Kindheit, von seinen frühen Sprachstudien, von dem katholischen Glauben, der ihn stark prägte, und von den schweren Schicksalsschlägen seiner Jugend. Seine Eltern verlor er früh, und diese Einsamkeit, diese Melancholie findet sich in vielen seiner Texte wieder.

Vor allem aber sprach ich über den Ersten Weltkrieg, der für Tolkien eine unvergessliche Zäsur war. Er kämpfte an der Somme, überlebte nur, weil er krank ins Lazarett kam, während Freunde starben. Ich wollte mein Publikum spüren lassen, wie tief diese Erlebnisse in seine Mythologie hineinreichen: die Totensümpfe als Sinnbild zerfetzter Schlachtfelder, die schwarzen Reiter als Schatten von Gasmasken-Soldaten, die kreischenden Nazgûl als Echo der ersten Kampfflieger.

Mir war wichtig, zu zeigen, dass „Der Herr der Ringe“ nicht bloß Fantasy ist. Tolkien hat keine plumpe Allegorie auf den Zweiten Weltkrieg geschrieben – er hat seine traumatisierten Erinnerungen aus dem Ersten in eine mythologische Form gegossen. Deshalb sind Frodo und Bilbo auch keine strahlenden Helden. Sie sind Figuren, die sich fürchten, zweifeln, stolpern – wie junge Männer, die in einen Krieg geschickt wurden, den sie nicht wollten.

Ich erklärte, warum Sam für mich die wichtigste Figur des ganzen Romans ist: Er ist der einfache englische Soldat, der „Bursche“, der seinen Offizier trägt, stützt und rettet. Ohne Sam wäre Frodo verloren – und ohne die einfachen Soldaten wäre Tolkien selbst im Krieg verloren gewesen. Es war mir ein Anliegen, diese stillen Parallelen sichtbar zu machen.

Natürlich sprach ich auch über Tolkiens Liebe zur Natur und seine Skepsis gegenüber der Moderne. Die Entherden und Baumbart als Aufstand der Natur gegen die zerstörerische Maschinerie Isengards – für mich ist das eine frühe literarische Öko-Warnung, ganz ohne erhobenen Zeigefinger.

Ein weiterer Teil meines Vortrags widmete sich der Editionsgeschichte: den unterschiedlichen deutschen Übersetzungen, der Debatte um Carroux und Krege, den Streit darüber, ob „Master Frodo“ mit „Chef“ übersetzt werden sollte – und warum ich persönlich die Carroux-Fassung bevorzuge.
Dann tauchten wir gemeinsam ein in die Verfilmungen. Ich zeigte die ersten Versuche: Ralph Bakshis ungewöhnliche Hybrid-Animation von 1978, die sowjetische Leningrader TV-Produktion von 1991, die heute Kultstatus besitzt. Und selbstverständlich sprachen wir über Peter Jacksons monumentale Trilogie, die das Tolkien-Universum für eine ganze Generation neu geöffnet hat.

Von dort aus war der Weg nicht weit zu den Ablegern: die „Hobbit“-Filme, die für meinen Geschmack etwas zu sehr gestreckt sind; die „Ringe der Macht“-Serie von Amazon, visuell beeindruckend, erzählerisch aber nicht ganz so kraftvoll; die Anime-Verfilmung „Die Schlacht der Rohirrim“; und der kommende Gollum-Film, der mich persönlich sehr neugierig macht.

Ich zeigte auch, wie umfassend Mittelerde die Popkultur durchdrungen hat: musikalisch durch das Tolkien Ensemble, technisch durch Videospiele, sogar im Alltag – etwa durch die Überraschungsei-Figuren in meinem Keller oder die Lego-Sets, die ich gerne sammeln würde, aber laut meiner Frau nicht darf.

Besonders eindrücklich fand das Publikum meine letzte Pointe: dass eines der mächtigsten Überwachungsunternehmen der Welt den Namen „Palantir“ trägt – benannt nach den sehenden Steinen aus Tolkiens Werk. Ein Zeichen dafür, wie tief seine Fantasie in die Wirklichkeit eingewandert ist.

Danke an das Team der Gemeindebücherei Maisach. Der nächste kostenlose Vortrag in der Gemeindebücherei ist am Mittwoch, 3. Dezember zum Thema Ein Leben für den Nervenkitzel – Alfred Hitchcock und die Macht der Emotionen. Beginn ist 18 Uhr.

Buchtipp: Cinemas – From Babylon Berlin to La Rampa Havana von Margarete Freudenstadt

21. November 2025

Wer meinen Blog kennt, der weiß: Ich liebe das Kino. Meine Liebe zum Kino beginnt oft im Dunkeln – in dem Moment, wenn das Licht ausgeht und der Alltag leise hinter einem die Tür schließt. Auf der Leinwand öffnet sich eine andere Welt, und für zwei Stunden darf man jemand anders sein, an anderen Orten leben, andere Leben fühlen.

Viele Kinos sterben heute aus den unterschiedlichsten Gründen und wenn ich die Gelegenheit habe, dann fotografiere Kinos. Zwei schmerzhafte Erfahrungen waren die Schließungen des Gabriels und des Sendlinger Tor Filmtheaters – beides in München. Ich habe darüber gebloggt. Immer wieder schwebst es mir vor, einen Buch zum Thema Kinos zu produzieren.

Schon vor langer Zeit traf ich eine Leidensgenossin in Sachen Kino. Die Fotografin Margarete Freudenstadt. Bei einer Ausstellung in Gauting stellte sie ihrem Bildband Cinemas – From Babylon Berlin to La Rampa Havana vor, der von Christoph Wagner herausgegeben wurde. Das Buch zeigt auf eindrucksvolle Weise eine nostalgische Reise durch Lichtspielhäuser zwischen Ost­deutschland und Kuba – und erzählt damit zugleich von Zeiten, Träumen und Verfalls­erscheinungen.

Der Band beginnt im Osten Deutschlands, in den frühen 1990er Jahren. Freudenstadt lässt alte DDR-Kinos auftreten: Gebäude wie das „Filmtheater Kosmos“ oder „Fortschritt-Lichtspiele“, einst Symbol für moderne Unterhaltung im Sozialismus, erscheinen nun ruhig, teilweise leer und von der Zeit gezeichnet. Die Fotografin dokumentiert Architektur, Foyers, Fassaden und Straßenzüge, oft mit einem Blick, der Ruhe, Leere und Erinnerung zugleich einfängt – als würde jedes Foto eine Art Nachklang einer Epoche sein, die bereits durch Umbruch und Wandel erschüttert wurde.

Im zweiten großen Kapitel führt das Buch nach Kuba – nach Havanna und Umgebung –, wo die filmische Begeisterung der 1950er Jahre unter US-Einfluss in prachtvollen Kinopalästen wie „Riviera“, „Acapulco“ oder „Florida“ gipfelte. Doch auch hier hat die Zeit ihre Spuren hinterlassen: Die einst glanzvollen Säle sind heute in vielen Fällen verfallen, verwittert, überzeichnet von Patina und Geschichte. Kubanische Kinos erscheinen im Bildband als stille Mahnmale einer Träumerei von Unterhaltung und Illusion, die einst pulsierte und nun – vielfach – ihre Zuschauer verloren hat.

Was das Buch und ihre Bilder so stark macht, ist nicht nur die gegensätzliche geografische wie historische Gegenüberstellung – Ost­deutschland nach der Wende versus Kuba im Wandel –, sondern der emotionale Eindruck, den diese Räume hinterlassen. Wir Leser spüren eine Mischung aus Vergänglichkeit und Faszination: Die Magie des Kinos, die einst in diesen Sälen lebte, klingt nach. Auch im Zustand des Verfalls bewahren die Bilder eine Präsenz – das Lichtspielhaus wird zur Metapher für Zeit, Erinnerung und Wandel.

Freudenstadts Fotografien sind großformatig, hochwertig gedruckt auf mattiertem, festen Papier. Jede Aufnahme zeigt detailreich Fassaden, Interieurs, Straßenraumeindrücke – Menschen sind teilweise präsent, doch nie Haupt­motiv; das Kino als Ort steht im Vorder­grund.

Begleitet werden die Bilder von einführenden Essays verschiedener Autoren, die über die Geschichte der Kinos in Kuba sowie in der DDR reflektieren – etwa zur Architektur, zur Film- und Kinokultur oder zur Rolle der Technik- und Sozialgeschichte.

Die Wirkung des Buches liegt in seiner stillen Kraft: Es lädt ein zu verweilen, zu schauen, zu erinnern. Man könnte sagen: Die vergessenen Lichtspielhäuser sprechen – über Vergangenes, über Wandel, über das, was aus dem Glanz wurde. Für Kinoliebhaber, Architektur- und Fotografie-Begeisterte ist der Band ein visuell wie inhaltlich beeindruckendes Werk.

Mit seinen 96 Seiten, einem Format von ca. 26 × 29 cm und rund 80 farbigen Abbildungen ist der Bildband hochwertig ausgestattet und ein Kunstwerk für sich.

Ich geb es nicht auf und fotografiere selbst weiter. Unlängst konnte ich in Estland ein sozialistisches Kino fotografieren, das auf dem Grundstück des Nazis Alfred Rosenberg erbaut wurde.