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Filmkritik: Barry Lyndon (1975) von Stanley Kubrick (in 4K)

11. Dezember 2025

Endlich ist Stanley Kubricks Historienfilm Barry Lyndon (1975) zum 50. Geburtstag auf 4K erschienen. Für mich ist der Film ein absolutes Meisterwerk. Ich habe diesen Filme wiederholt gesehen und lange mir immer wieder Gedanken dazu gemacht. Ich habe von dem Film die VHS, Laserdisc, DVDm Bluray und jetzt das 4K-Steelbook.

Barry Lyndon gilt als einer seiner visuell beeindruckendsten und ästhetisch ausgefeiltesten Filme. Das auf William M. Thackerays Roman basierende Epos erzählt vom Aufstieg und Fall des irischen Abenteurers Redmond Barry im 18. Jahrhundert – in einer Erzählweise, die ebenso präzise wie distanziert ist. Berühmt wurde der Film vor allem für seine betörende Bildgestaltung und den innovativen Einsatz von Kerzenlicht, aber auch für sein gemächliches Erzähltempo. Bereits bei Erscheinen eilte Barry Lyndon der Ruf voraus, „behäbig erzählt“ und sogar langweilig zu sein – Kritiker spotteten mit dem Wortspiel „Borey Lyndon“.

Zugleich lobte man jedoch die außergewöhnliche Schönheit der Bilder. Heute, aus zeitlicher Distanz, wird Barry Lyndon oft als Meisterwerk angesehen, das mit kühler Perfektion die Vergangenheit lebendig werden lässt und filmästhetisch neue Maßstäbe setzte.

Kameraführung und Bildkomposition
Visuell nähert sich Barry Lyndon der Ästhetik des 18. Jahrhunderts wie kaum ein anderer Film. Kubrick und Kameramann John Alcott komponieren nahezu jede Einstellung wie ein Gemälde der alten Meister. Viele Szenen beginnen mit einer Detailaufnahme und ziehen sich dann langsam mit einem Zoom zurück, bis sich ein vollständig ausgeleuchtetes Tableau ergibt, das an ein Tableau vivant oder direkt an ein Landschafts- oder Porträtgemälde jener Zeit erinnert. Kubrick trieb diese Technik im Film konsequent auf die Spitze – nahezu jede Szene wird mit einem langsamen Zoom eröffnet. Anders als bei einer Kamerafahrt bleibt die Perspektive dabei flach; tatsächlich wirkt der Film oft bewusst wie ein fotografiertes Gemälde: flächig und ohne Tiefe. Die Figuren erscheinen mitunter klein und unwichtig innerhalb prächtig komponierter Landschaften oder Räume, was ihre Bedeutungslosigkeit vor den grandiosen Schauplätzen der Geschichte betont. Dieses visuelle Konzept vermittelt – gleich in der ersten Einstellung, die Barrys Vater als winzige Figur in weiter Landschaft bei einem Duell und seinem Tod zeigt – ein Gefühl der Distanz und der Vorbestimmtheit des Geschehens. Der Mensch ist bei Kubrick sprichwörtlich eine kleine Figur auf der großen Bühne des Schicksals.

Kubrick wollte nach eigener Aussage die Schönheit barocker Malerei in den Film übertragen und das Leben jener Epoche authentisch erfahrbar machen. Dafür bereiste er monatelang historische Schauplätze, studierte unzählige Gemälde und Zeichnungen und ließ seine Szenen direkt von diesen Vorbildern inspirieren. Viele großformatige Totalen in Barry Lyndon sind denn auch Kompositionen nachempfunden, die an Künstler wie John Constable, William Hogarth oder Thomas Gainsborough erinnern . Die Einstellungen wirken wie lebendig gewordene Bilder des Rokoko – ein Kritiker sprach von „den überwältigendsten Bildkompositionen, die je auf Zelluloid gebannt wurden“. Jede Szene reiht sich an die nächste wie die Tafeln eines Gemäldezyklus. Kubricks Kamera bleibt dabei meist statisch oder bewegt sich eben nur durch Zooms; schnelle Schwenks oder hektische Schnitte sucht man vergebens. Stattdessen setzt er auf lange, ruhige Einstellungen, in denen die Schauspieler sich oft wie auf einer Theaterbühne innerhalb eines perfekt arrangierten Bildraums bewegen. Dieses streng kontrollierte Zusammenspiel von Kameraführung und Mise-en-scène verleiht dem Film seinen unverwechselbaren malerischen Stil. Das Auge des Zuschauers bekommt die Muße, in den Details zu verweilen – von den opulenten Kostümen über die historischen Requisiten bis zur Landschaft im Hintergrund. Kubrick selbst sammelte für den Film einen ganzen Katalog visueller Referenzen aus Kunstbüchern (für Kostüme, Ausstattung, Möblierung etc.), um möglichst jede visuelle Facette der Zeit korrekt wiederzugeben. Kein Element im Bild ist dem Zufall überlassen; alles orientiert sich an der Ikonographie des 18. Jahrhunderts.

Interessanterweise entschied sich Kubrick fast immer für Zooms statt Kamerafahrten, obwohl Letztere räumliche Tiefe erzeugen könnten. Ein praktischer Grund dafür war, dass in den echten historischen Schlössern und Herrenhäusern, in denen gedreht wurde, schwere Kameraschienen oft nicht verlegt werden konnten, ohne die empfindlichen Böden zu beschädigen. Doch auch ästhetisch sind die Zooms bedeutsam: Sie verändern den Bildausschnitt, ohne die Perspektive des Hintergrunds zu verschieben, was den Gemälde-Charakter der Einstellungen erhält. Dadurch wirken die Bildkompositionen noch mehr wie starre Gemälderahmen, in denen sich das Geschehen entfaltet. Insgesamt schafft die Kameraführung so einen ästhetischen Abstand – der Zuschauer betrachtet viele Ereignisse wie ein außenstehender Beobachter, fast wie in einer Galerie der Vergangenheit. Kubricks bilderzählende Inszenierung lässt oft die Optik statt Dialoge sprechen: Zahlreiche Passagen kommen ganz ohne Worte aus, und die stummen Bilder tragen dann die Bedeutung. Dies entspricht Kubricks Intention, ein historisches Panorama zu gestalten, das weniger von dramatischer Handlung als von visuell-atmosphärischer Erfahrung lebt. Die Konsequenz, mit der Kameraführung und Komposition an Gemäldeästhetik und formale Strenge angepasst sind, macht Barry Lyndon zu einem singulären filmischen Kunstwerk.

Lichtgestaltung: Kerzenlicht als Stilmittel
Barry Lyndon erlangte besondere Berühmtheit durch seine Lichtgestaltung: Kubrick entschied, sämtliche Innenraumszenen ausschließlich im Schein von Kerzen und natürlichem Licht zu drehen – ohne den Einsatz moderner Studio-Beleuchtung. Dieses Wagnis entsprang dem Wunsch nach maximaler historischer Authentizität und dem Eindruck barocker Gemälde, in denen Licht und Schatten eine zentrale Rolle spielen. Um das technisch zu ermöglichen, bediente sich Kubrick einer einzigartigen Lösung: Er ließ spezielle extrem lichtstarke Objektive der Firma Carl Zeiss verwenden, die ursprünglich für die NASA entwickelt worden waren. Diese Planar-Objektive mit einer Öffnung von f/0.7 – weit lichtempfindlicher als jedes herkömmliche Filmobjektiv – machten es möglich, in echtem Kerzenlicht überhaupt zu filmen . Zusätzlich wurde hochempfindliches Filmmaterial genutzt, um trotz der Dunkelheit ausreichend Bildinformation zu erhalten. Dennoch musste teilweise mit Unterbelichtung gearbeitet werden, die man erst in der Filmentwicklung durch sogenannte Push-Verfahren ausglich – ein Prozess, der den Kontrast und die Farbwiedergabe des Bildes beeinflusste. Diese technische Gratwanderung hatte zur Folge, dass die nächtlichen Innenaufnahmen des Films ein weiches, leicht körniges Aussehen mit eingeschränktem Kontrastumfang besitzen – genau jene schwebende, unwirkliche Lichtstimmung, die den Bildern eine zeitentrückte Patina verleiht. Das flackernde, warme Kerzenlicht taucht Gesichter und Räume in sanftes Halbdunkel, in dem Details manchmal nur erahnt werden. Dieser Effekt erinnert an die Stimmung alter Ölgemälde, die im Laufe der Zeit nachgedunkelt sind oder feine Risse und Vergilbungen aufweisen. So wird das Licht selbst zum Träger der historischen Distanz: Es schafft eine Atmosphäre, die dem Publikum unbewusst signalisiert, dass wir in eine vergangene Welt blicken.

Kubrick trieb den Aufwand dieser natürlichen Beleuchtung immer weiter. In jeder Nacht-Szene scheinen im Verlauf des Films mehr Kerzen aufzutauchen – offenbar mussten für spätere, größer angelegte Sequenzen immer mehr Kerzen aufgestellt werden, um genügend Licht für die Kamera zu erzeugen.

Teilweise brannten dutzende von Kerzenleuchtern gleichzeitig, um beispielsweise einen Ballsaal auszuleuchten. Die Herausforderung war enorm: Schon kleine Bewegungen der Darsteller oder Luftzüge konnten die Kerzenflammen flackern lassen und so die Belichtung verändern. Kubrick und Alcott entwickelten daher auch besondere Techniken, um die Kerzen in den Szenen so zu platzieren, dass sie nicht nur Lichtquelle, sondern auch natürlicher Teil des Dekors waren – etwa auf Tischen, in Kronleuchtern oder als Kandelaber, die von Figuren gehalten werden. Das Licht kommt häufig von der Seite oder schräg von vorn, um Gesichtern Plastizität zu verleihen (rein frontales Kerzenlicht hätte die Gesichter flach und konturenlos erscheinen lassen). Tatsächlich studierte das Team die Malereien alter Meister – beispielsweise die niederländischen und französischen Kerzenlicht-Szenen – um deren Effekte nachzuempfinden. Man stellte fest, dass rein frontale Beleuchtung auf Gemälden oft etwas flach wirkte und entschied sich daher, die wichtigsten Lichtquellen seitlich zu setzen, um Tiefe und Schattenspiel zu erzeugen.

Ein entscheidender Beweggrund für Kubricks radikalen Verzicht auf Kunstlicht war auch die Erkenntnis, dass historische Materialien und Farben unter modernen Scheinwerfern anders aussehen würden als im ursprünglichen Licht der Zeit. Bei den aufwendigen Vorbereitungen – originale Kostüme wurden erworben oder detailgenau nachgeschneidert – bemerkte Kubrick, dass Stoffe des 18. Jahrhunderts bei elektrischem Licht unnatürlich wirken . Um die Farben und Texturen so zu zeigen, wie sie im Kerzen- und Tageslicht der Epoche gewirkt hätten, entschied er während der Produktion überraschend, sämtliche Nachtszenen nur im Kerzenlicht zu drehen. Dieses kompromisslose Streben nach Authentizität führte paradoxerweise zu einem Stil, der hyperreal und malerisch zugleich ist: Hyperreal, weil wir als Zuschauer tatsächlich das Gefühl bekommen, im 18. Jahrhundert in einen schwach beleuchteten Salon zu blicken; malerisch, weil das Spiel aus Licht und Schatten fast unwirklich schön und kunstvoll komponiert ist. Ein Kritiker bemerkte treffend, das Ergebnis dieser Bemühungen um Authentizität sei letztlich kein purer Realismus, sondern eine „seltsam irreale, schwebende Lichtstimmung“, die wie ein visueller Schleier über der historischen Distanz liege. Durch das Halbdunkel im Innenraum entfaltet sich zudem eine Morbidität – eine morbide Stimmung – als Symbol des Verfalls einer Epoche, die sich bereits auf dem Weg in die Auflösung befindet.

Kubricks Kerzenlicht-Experiment hat Filmgeschichte geschrieben. Noch Jahrzehnte später wird diese Leistung bestaunt, da zuvor kein Spielfilm derart umfangreich mit echtem Kerzenlicht realisiert worden war. Die technische Meisterleistung (inklusive Umbau der Kameras für die NASA-Objektive) ging Hand in Hand mit einer künstlerischen Vision: Die Vergangenheit sollte so unmittelbar und unverfälscht erscheinen, dass man als Zuschauer förmlich die Atmosphäre jener Zeit spürt – sei es in rauchigen Tavernen, prunkvollen Ballräumen oder intimen Kammerszenen im Schein flackernder Flammen. All dies trägt maßgeblich zum unverwechselbaren Look des Films bei. Kubrick selbst schrieb jedem Filmvorführer zur Erstaufführung detaillierte Anweisungen, wie der Film vorzuführen sei (etwa hinsichtlich Projektorlampen und Blenden), damit die subtile Helligkeit der Kerzenlichtszenen korrekt zur Geltung kommt – ein Hinweis darauf, wie wichtig ihm das erzielte Licht-Ergebnis war. Zusammen mit der sorgfältigen Komposition ergibt die Lichtgestaltung ein visuelles Erlebnis, das von vielen als „der schönste Film aller Zeiten“ bezeichnet wurde und bis heute seinesgleichen sucht.

Farbdramaturgie
Eng verknüpft mit der Lichtgestaltung ist die Farbdramaturgie des Films. Barry Lyndon entfaltet eine Farbpalette, die stark an die Ära des Spätbarock und Rokoko angelehnt ist. Die dominierenden Töne sind gedämpft, natürlich und wirken oft wie von einem leichten Sepia-Schleier überzogen – was nicht zuletzt ein Resultat der verwendeten Technik (Unterbelichtung und Push-Entwicklung) ist. Durch das Verfahren der Nachentwicklung wurde der Kontrastumfang reduziert und die Farbsättigung verändert, was dem Bild eine leicht körnige, pastellene Anmutung gibt. Die Farben erinnern an gealterte Gemälde oder an mit Kerzenlicht beleuchtete Räume: Hauttöne bekommen einen warmen Goldschimmer, die kostbaren Stoffe der Kostüme schimmern in gedämpften Blau-, Grün- und Rottönen, nie grell oder übersättigt. Dieser bewusste Verzicht auf knallige Farben unterstreicht die historische Atmosphäre und verleiht dem Film eine edle Zurückhaltung in der Farbgebung.

Kubrick achtete peinlich genau darauf, dass Farben im Film stimmig zur Zeit passen. So wurden z.B. Uniformen, Kleider und Tapeten farblich nach Vorlagen aus dem 18. Jahrhundert ausgewählt. Die berühmten roten Uniformröcke der britischen Soldaten stechen kräftig hervor, während etwa die Pastelltöne der Rokoko-Mode oder die erdigen Farben ländlicher Szenen authentisch wiedergegeben sind. In Außenaufnahmen nutzte Kubrick oft die weichen Farben der irischen und englischen Landschaft – sattes, aber nicht überdrehtes Grün der Wiesen, graublaue Himmel, braune Landstraßen. Viele Außenaufnahmen entstanden bei natürlichem Licht, häufig an leicht bedeckten Tagen oder im Morgen-/Abendlicht, um zu grelle Farben und harte Schatten zu vermeiden. So entsteht in den Landschaftsbildern eine fast gemäldeartige Farbharmonie: Himmel, Erde, Kostüme der Figuren – alles scheint farblich aufeinander abgestimmt zu sein, als hätte ein Landschaftsmaler seine Palette angesetzt.

Die Farbdramaturgie folgt dabei subtil auch dem erzählerischen Bogen. In der ersten Filmhälfte, in der Barry sich in verschiedenen Milieus bewegt (irische Heimat, britisches Militär, preußische Armee, höfische Gesellschaft), variiert das Farbspektrum je nach Umgebung: Das irische Dorfleben zeigt sanfte Grün- und Brauntöne, Militärszenen betonen das Kontrastrot der Uniformen vor neutralen Hintergründen, die adligen Salons schimmern in Gold, Silber und Kerzenlicht. Wenn Barry schließlich Lady Lyndon heiratet und im Überfluss lebt, dominieren in Schlosses-Szenen helle Töne, Weiß und Pastellfarben – als visuelle Entsprechung des oberflächlichen Prunks. Im zweiten Teil, als Barrys Glück zu schwinden beginnt, werden die Farben tendenziell dunkler und kühler: Die Stimmung trübt sich, die prachtvollen Räume wirken dunkler (auch weil viele Schlüsselszenen – wie der dramatische Showdown im Billardsaal beim Duell – im Halbdunkel gehalten sind). So verschwindet die leichte, helle Farbigkeit des Rokoko allmählich und macht einer gedeckteren, fast melancholischen Tonalität Platz, während Barrys Leben aus den Fugen gerät. Ob bewusst so konzipiert oder Ergebnis des dramaturgischen Empfindens des Zuschauers – die Farbentwicklung unterstützt die Erzählung: vom hoffnungsvoll-idyllischen Beginn bis zum düsteren Ende in Resignation.

Auch durch die Kerzenlichtaufnahmen erhalten die Farben eine besondere Note: Das flackernde Licht lässt Gesichter röter oder fahler erscheinen, je nach Abstand zur Flamme, und es lässt die vergoldeten Tapeten und Gemälde an den Wänden warm aufleuchten. Schattenbereiche verschwimmen in braun-schwarzen Tönen. So entsteht in den Innenräumen fast automatisch ein Chiaroscuro-Effekt (Hell-Dunkel-Kontrast), der von Malern wie Rembrandt oder den kerzenlichtmalenden Meistern (z.B. Georges de La Tour) bekannt ist. Kubrick hat also nicht nur inhaltlich, sondern auch farblich eine Dramaturgie des Lichts geschaffen: Licht und Farbe erzählen mit. Im Ergebnis wird der Film zu einem optischen Gesamtkunstwerk, in dem Farbgebung, Beleuchtung und Komposition untrennbar zusammenwirken. Jeder Frame könnte – wie oft bemerkt wurde – als Gemälde an der Wand hängen, und die Farben würden genau so darauf erscheinen.

Filmmusik und ihr narrativer Einsatz
Wie schon in früheren Filmen (man denke an 2001: Odyssee im Weltraum mit Strauss und Ligeti) verzichtete Kubrick auch in Barry Lyndon auf eine originale Auftrags-Filmmusik und stellte stattdessen einen Soundtrack aus klassischer Musik und Volksmusik zusammen, der dramaturgisch äußerst gezielt eingesetzt wird. Die ausgewählten Stücke entstammen – mit einer bewussten Ausnahme – der Zeit, in der der Film spielt, oder sogar früher. Wir hören Kompositionen von Georg Friedrich Händel, Johann Sebastian Bach, Antonio Vivaldi, Giovanni Paisiello, Wolfgang Amadeus Mozart und (als Ausreißer, da erst spätes 18. Jh.) Franz Schubert, außerdem traditionelle irische Musik, eingespielt von der Folk-Gruppe The Chieftains. Diese musikalische Zeitverankerung verleiht dem Film einerseits historische Authentizität im Klang, andererseits nutzt Kubrick die Musik sehr bewusst als erzählerisches Mittel – als unsichtbaren Erzähler gewissermaßen, der Stimmungen und Subtexte transportiert.

Am bekanntesten ist das musikalische Hauptthema des Films: Händels „Sarabande“ in d-Moll (HWV 437). Dieses gravitätische, schreitende Barock-Stück durchzieht den Film in mehreren Variationen. Kubricks Komponist/Arrangeur Leonard Rosenman orchestrierte die Sarabande unterschiedlich, je nach Kontext: Zunächst hört man sie in einer pompösen, feierlichen Fassung, die Barrys Ambitionen und den Pomp der alten Ordnung unterstreicht; später – wenn Barrys Glück schwindet – kehrt sie in reduzierter, klagender Instrumentierung wieder und erhält beinahe einen Trauermarsch-Charakter. So wird die Sarabande zu einem musikalischen Leitmotiv für Aufstieg und Fall der Hauptfigur. Besonders eindringlich wirkt dies im Finale: Während des klimaktischen Duells zwischen Barry und seinem Stiefsohn Lord Bullingdon steigert sich die Sarabande über sechs Minuten zu einem unerträglichen Crescendo der Angst. Hier treibt die Musik die Spannung voran und kommentiert zugleich die ausweglose Situation – ohne ein Wort Dialog.

Neben Händel spielen auch andere Stücke prägnante Rollen: Schuberts Klaviertrio Es-Dur (op.100) erklingt in der berühmten Balz- und Verführungssequenz, als Barry zum ersten Mal Lady Lyndon im Spielsaal begegnet. Diese Szene, in der kaum gesprochen wird, ist nahezu vollständig durch Musik und Blicke erzählt. Kubrick streckt den Moment – eine simple Abfolge von Blicken, ein Kuss auf die Hand, das Andeuten von Verführung – zu einer langen Sequenz, in der Schuberts anrührende Melodie die unterdrückten Emotionen und die knisternde Spannung zwischen den Figuren transportiert. Martin Scorsese beschrieb diese Szene treffend als „eine Art Ballett der Emotionen“, bei dem die Kamerabewegungen, die Körpersprache der Schauspieler und die Musik perfekt aufeinander abgestimmt sind. Die Musik versetzt den Zuschauer dabei fast in Trance und macht spürbar, was unausgesprochen bleibt. Interessanterweise endet Rosenmans Bearbeitung des Schubert-Trios in der Szene, bevor das leidenschaftliche Mittelthema einsetzt – Kubrick wollte bewusst keinen Höhepunkt in der Musik, der die aufkeimende Leidenschaft allzu romantisierend krönen würde. Stattdessen wiederholt sich das Hauptthema, was laut Kubrick Lady Lyndons Frustration und Barrys Unvermögen, eine nachhaltige Beziehung aufzubauen, unterschreicht. Diese subtilen Entscheidungen zeigen, wie gezielt Kubrick die klassischen Stücke für seine narrative Absicht formte.

Ein weiteres musikalisches Leitmotiv ist das irische Volkslied „Women of Ireland“ (Mná na h-Éireann), das in einer instrumentalen Fassung der Chieftains mehrmals erklingt – vor allem in Momenten, die mit Barrys irischer Herkunft oder seinen romantischen Gefühlen verbunden sind. Es untermalt etwa seine zärtlichen Szenen mit seiner ersten Liebe Nora, taucht aber auch später auf, wenn Barry wehmütig oder sentimental gezeigt wird. Die klagende Melodie dieses irischen Airs verleiht dem Film eine emotionale Tiefe und erinnert den Zuschauer daran, wo Barry herkommt – was er im Laufe seiner Reise vielleicht selbst vergisst.

Für die Militärszenen und Marschsequenzen wählte Kubrick authentische Marschmusik: Der britische Marsch „British Grenadiers“ ist zu hören, ebenso der preußische „Hohenfriedberger Marsch“. Diese Einlagen geben den Kriegs- und Armeeszenen den passenden historischen Klangteppich und wirken teils ironisch, wenn die fröhlich-patriotischen Weisen der grausamen Realität der Schlacht gegenübergestellt werden. So marschieren Barrys britische Kameraden zu fröhlicher Pfeifen-und-Trommeln-Musik in die Schlacht – ein bewusster Kontrast zwischen Musik und Bild, der die Absurdität des Krieges fühlbar macht.

Generell setzt Kubrick Musik oft als ironischen Kontrapunkt ein. Ein Beispiel: Nach Barrys liebevoller, sanfter Begegnung mit einem deutschen Bauernmädchen im Krieg (einer romantischen Episode, die fast wie eine kurze Idylle wirkt), beendet der Erzähler die Szene mit der Bemerkung, sie sei „wie eine oft belagerte Stadt“ schon von vielen Soldaten „erobert“ worden. Dazu erklingt eine leichte Musik, die die scheinbare Romantik unterläuft und uns spüren lässt, dass Barrys Affäre nichts Besonderes ist. Solche Momente zeigen Kubricks zynisch-humorvolle Handschrift: Die Musik kann sowohl Emotion evozieren als auch entlarven.

In Barry Lyndon dominiert die Musik in weiten Teilen die Atmosphäre der Szenen mindestens ebenso stark wie das Bild . Häufig sind ganze Passagen nur von Musik und Bildern getragen, ohne Dialog – hier „erzählt“ die Musik mit.

Filmwissenschaftler haben angemerkt, dass in Kubricks späten Filmen – speziell 2001, Clockwork Orange und Barry Lyndon – die Musik eine so führende Rolle spielt, dass sie die emotionale Ebene der Filme bestimmt und den Zuschauer eher unbewusst mitnimmt. Die Musik spricht die Gefühle an, bevor der Verstand alles einordnen kann. In Barry Lyndon erreicht Kubrick damit, dass der Film trotz seiner kühlen, distanzierten Inszenierung eine starke emotionale Wirkung entfaltet – jedoch auf unerwartete Weise: Wir werden nicht durch dramatische Schauspielkunst oder melodramatische Handlung ergriffen, sondern durch die Kombination aus Bild und Musik, die zusammen eine Stimmung erzeugt. Die Sarabande beispielsweise schafft von Beginn an eine Ahnung von Tragik und Schicksalsschwere, die Barrys Werdegang wie ein musikalisches Schicksalsmotiv unterlegt.

Zusammenfassend ist Kubricks Musikeinsatz in Barry Lyndon meisterhaft und vielschichtig: Er wählt die Stücke mit historischen Bedacht, passt sie durch Arrangement und Platzierung den Szenen an und nutzt sie, um Stimmung, Kommentar und Struktur zu geben. Die Musik fungiert teils als erzählerischer Kommentar (ähnlich dem Voice-over), teils als emotionaler Verstärker oder ironischer Gegenpol. Sie trägt wesentlich dazu bei, dass der Film trotz seiner langsamen, kontrollierten Bildsprache einen hypnotischen Sog entwickelt. Wie ein Kritiker schrieb, gelingt es Kubrick, mit dem „subtilen Soundtrack zwischen Händels ‘Sarabande’ und irischen Traditionals seine Erzählung gleichsam narrativ voranzubringen als auch ironisch zu kommentieren“. Barry Lyndon ist somit auch ein Paradebeispiel dafür, wie vorbestehende Musikstücke in einem Filmkontext völlig neue erzählerische Kraft entfalten können.

Erzählstruktur und Tempo
Die Erzählstruktur von Barry Lyndon folgt bewusst einem zweitteiligen Aufbau, der im Film sogar durch Einblendungen („Erster Teil“ / „Zweiter Teil“) kenntlich gemacht wird. Im ersten Teil begleiten wir Redmond Barry auf seiner abenteuerlichen Reise durch Europa, in immer neue soziale Rollen und Stationen: vom verarmten irischen Landedelmann zum Duellanten, vom Soldaten zum Deserteur, vom Gauner zum opportunistischen Aufsteiger. Kubrick präsentiert diese Odyssee als episodische Abfolge von Stationen – Barry wird als Notlügner, Faustkämpfer, Soldat, Deserteur, Spion, Glücksspieler, Geldeintreiber und Emporkömmling gezeigt . Jedes Kapitel seines Lebens bringt neue Orte, Personen und Erfahrungen. Dieser erste Teil kulminiert darin, dass Barry durch Heirat in den Adel aufsteigt: Er ehelicht Lady Lyndon und erwirbt so Namen und Reichtum – scheinbar das Ziel all seiner Bemühungen. Hier endet Teil I, an der Schwelle von Barrys sozialem Gipfel.

Der zweite Teil setzt genau dort ein und kehrt die Dynamik um. War Barry zuvor ein rastlos Suchender, der sich von Ort zu Ort bewegt, so finden wir ihn nun als Mann, der sein Ziel erreicht hat – doch dieses Glück ist trügerisch. Statt weiterer Stationen erleben wir nun einen statischen Abschnitt: Barry lebt als Ehemann auf dem Landsitz seiner Frau, umgeben von geschlossenen Räumen und einem festen Zuhause in Form eines Schlosses . Die Dramaturgie des zweiten Teils ist weniger episodisch, vielmehr kreist sie um Barrys allmählichen Niedergang: Seine Verschwendungssucht, seine Affären, die zerrüttete Ehe, der Konflikt mit Stiefsohn Lord Bullingdon, der tragische Verlust seines eigenen kleinen Sohnes und schließlich Barrys sozialer Absturz. In gewisser Weise spiegelt der zweite Teil den ersten – jedoch als Niedergang statt Aufstieg. Es gibt wieder Duelle, Gewalt und Demütigungen, aber nun richten sie sich gegen Barry. Diese narrative Symmetrie (Duell zu Beginn und Duell am Ende; körperliche Züchtigungen in Armee und später durch den Stiefsohn; Aufstieg und Fall) verleiht dem Gesamtwerk einen geschlossenen, fast kreisförmigen Charakter. Laut Kubrick ergab sich diese Symmetrie hauptsächlich aus den Erfordernissen der Adaption und Dramatisierung und weniger aus einem vorgefassten „Plan“ – dennoch wirkt das Resultat hochgradig durchkomponiert. Man hat den Eindruck, einer elegischen Geschichte zu folgen, in der sich bestimmte Motive wiederholen und variieren, ähnlich wie in einem Musikstück Themen aufgegriffen und in Moll gespiegelt werden.

Besonders auffällig ist das langsame Erzähltempo. Kubrick nimmt sich bewusst Zeit, um Szenen in Ruhe entfalten zu lassen. Die Einstellungen sind meist lang, Dialoge spärlich. Übergänge zwischen Szenen erfolgen oft elliptisch (Übersprung ganzer Zeiträume) oder werden vom allwissenden Erzähler in wenigen Sätzen zusammengefasst, anstatt sie in Hektik auszuspielen. Diese Entschleunigung war in den Augen mancher Zuschauer ungewohnt – gerade nach Kubricks vorherigen, teilweise provokant schnellen Filmen wie Uhrwerk Orange. Doch Kubrick verfolgte hier ein klares Konzept: Er wollte das Zeitgefühl des 18. Jahrhunderts vermitteln. Martin Scorsese bemerkte bewundernd, Kubricks „Kühnheit besteht darin, auf Langsamkeit zu bestehen, um das Lebenstempo jener Zeit nachzubilden und das Verhalten der Menschen zu ritualisieren“ . Tatsächlich spürt man in jeder Szene die förmliche Langsamkeit höfischer Etikette, die Bedächtigkeit, mit der man sich in dieser Epoche bewegte – sei es beim höflichen Konversationsspaziergang, beim umständlichen Ankleiden mit Korsett und Perücke oder beim Verbeugen vor Adligen. Kubrick ritualisiert durch sein Tempo das Verhalten der Figuren: So wie damals alles seinen Zeremoniell hatte, so bekommt auch der Film einen zeremoniellen Fluss.

Eine bewusste Erzählentscheidung ist auch das Vorwegnehmen von Ereignissen durch den Erzähler. Spannung im herkömmlichen Sinne – also Neugier, was als Nächstes passiert – tritt in den Hintergrund. Stattdessen betont Kubrick das Wie und Warum der Geschehnisse. „Barry Lyndon ist eine Geschichte, die nicht von Überraschungen lebt. Wichtig ist nicht, was passieren wird, sondern wie es passieren wird“, erläuterte Kubrick. So erfahren wir beispielsweise frühzeitig, dass Barrys kleiner Sohn Bryan bald sterben wird, während wir ihn noch unbeschwert mit seinem Vater spielen sehen. Oder der Erzähler kündigt an, dass der junge Lord Bullingdon eines Tages Barrys Untergang einleiten wird – lange bevor der offene Konflikt eskaliert. Dieses Foreshadowing (Vorauseilen der Handlung) nimmt zwar den Überraschungseffekt, erzeugt jedoch eine andere Art von Spannung: die Spannung des Unvermeidlichen. Ähnlich wie man bei der Titanic-Katastrophe von Anfang an weiß, dass das Schiff sinken wird, schaut man hier den sorglosen Szenen mit Bryans Spiel oder Barrys Festen mit beklemmender Ahnung zu. Kubrick meint, dass durch dieses Vorauswissen die Ereignisse schicksalhafter und weniger konstruiert wirken. Der Zuschauer soll nicht durch plot twists geschockt werden, sondern die bittere Ironie genießen (oder ertragen), dass alles längst seinen Lauf in Richtung Tragödie nimmt.

Diese ungewöhnliche Erzählweise – ohne künstliche Suspense, dafür mit viel sarkastischer Dramaturgie – verstärkt den Eindruck, dass wir es hier mit einem historischen Gemälde des Lebens zu tun haben, nicht mit einem konventionellen Drama. Thackerays Roman trug den Untertitel „Memoiren eines Junkers, aufgezeichnet von ihm selbst“ und wurde als „Roman ohne Helden“ bekannt. Kubrick übernahm diese Idee und baute sie in die Filmstruktur ein: Barry Lyndon bleibt bis zum Ende eine ambivalente Figur, die weder glorifiziert noch klassisch verdammt wird. Die Erzählung wertet nicht moralisch, sondern zeigt die Variationen eines Lebens, von Naivität über Ehrgeiz bis Bitterkeit. Damit einher geht, dass Kubrick das Publikum nicht mit emotional manipulativen Mitteln hetzt, sondern zur kontemplativen Betrachtung einlädt. Viele Kinogänger der 1970er waren damit zunächst überfordert oder ungeduldig – in Zeiten des New Hollywood erwartete man vielleicht eine andere Art von Erzählfluss. Doch in der Rückschau erkennt man, wie konsequent Kubrick hier erzählerische Konventionen auf den Kopf stellte. Ein Kritiker nannte den Film deshalb treffend „den teuersten Experimentalfilm aller Zeiten“ – Kubrick habe die essentiellen Errungenschaften des avantgardistischen Kinos der 60er/70er Jahre (Entschleunigung, Verweigerung klassischer Spannungskurven, formale Strenge) in ein aufwändiges Kostümdrama übertragen, was zuvor undenkbar schien.

Letztlich ist das Erzähltempo in Barry Lyndon nicht Selbstzweck, sondern Ausdruck von Kubricks inhaltlicher Haltung: Das Leben, so scheint er zu sagen, verläuft nicht in dramatischen Wendepunkten und pointierten Dialogen, sondern oft langsam, schleichend und von Kräften bestimmt, die außerhalb individueller Kontrolle liegen. Die geduldige, chronikartige Struktur des Films vermittelt genau dieses Gefühl. Und gerade in der Summe der detailreichen, ruhigen Beobachtungen entfaltet sich am Ende ein erschütterndes Gesamtbild vom „Aufstieg durch Leichtgläubigkeit und Fall durch die strengen Sitten einer Epoche“ – eine Art filmisches Gesellschaftsgemälde, das man nach drei Stunden fast genauso atemlos wie eine Actionszene verlässt, nur eben auf anderer Ebene berührt.

Schauspiel und Figurenzeichnung
Kubrick ist bekannt dafür, von seinen Schauspielern ein manchmal extrem zurückhaltendes Spiel zu fordern – so auch in Barry Lyndon. Die Darsteller agieren betont gedeckt, gestisch minimalistisch und oft mit poker face. Hauptdarsteller Ryan O’Neal, damals ein Hollywood-Star (Love Story machte ihn berühmt), verkörpert Redmond Barry mit großer körperlicher Präsenz, aber vergleichsweise sparsamer Mimik und Gestik. Dieser nüchterne, kontrollierte Ausdruck wurde von manchen Kritikern als ausdruckslos oder „hölzern“ kritisiert, aber er passt genau zu Kubricks Intention: Barry Lyndon ist ein Opportunist, der sich ständig anpasst und in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts bewegen muss, ohne aus der Rolle zu fallen. O’Neal vermittelt mit wenigen Gesten Barrys Stolz und Narzissmus, aber auch die stille innere Freude über seinen sozialen Aufstieg – all dies mit großer Nüchternheit und ohne theatrales Ausagieren. In den Momenten, in denen Barry explodieren könnte (etwa als er betrunken auf einer Gesellschaft seinen Stiefsohn verprügelt), wirkt er dennoch wie ein Mann, der in seiner eigenen Welt gefangen ist – kurz enthemmt, doch bald wieder gefasst.

Ähnlich verhält es sich mit Marisa Berenson als Lady Lyndon. Sie hat im Drehbuch kaum Dialogzeilen; ihre Figur wird vor allem über Blicke, Schweigen und Präsenz definiert. Berenson legt Lady Lyndon mit schweigsamer, melancholischer Introvertiertheit an. Oft sitzt sie wie erstarrt im dekorativen Rahmen, mit einem leicht entrückten Ausdruck – eine schöne, aber traurige Erscheinung, die an Gemäldeporträts jener Epoche erinnert. Gerade diese stumme Melancholie ihrer Darstellung macht spürbar, wie unglücklich Lady Lyndon in der arrangierten Ehe mit Barry ist, wie sehr sie in den Konventionen gefangen ist. Ein Lächeln von ihr ist rar; stattdessen dominiert ein leidendes, stumpfes Hinnehmen der Geschehnisse (etwa wenn Barry ihr im Hochzeitskutschensitz gleichgültig Zigarrenrauch ins Gesicht bläst und sie es stoisch erträgt).

Generell erscheint ein Großteil der Figuren wie Geister oder Marionetten in einer perfektionierten Kulisse . Kubrick hatte alle Darsteller – auch die Nebendarsteller in den Salons und an den Höfen – in authentische Puderperücken, Schminke und steife Kostüme gehüllt. Die schwere weiße Schminke (Puder) der Zeit überzog die Gesichter so sehr, dass das Mienenspiel der Akteure tatsächlich physisch eingeschränkt war und maskenhaft wirkt. Diese Maskierung ist nicht zufällig: Sie symbolisiert die Maske der gesellschaftlichen Rolle, die jeder in dieser Epoche trägt. Gefühle werden hinter höfischer Fassade verborgen. Kubrick trieb dies so weit, dass er sogar in emotional zugespitzten Momenten auf Ausbrüche verzichtet. Wenn etwa Barry vom Tod seines geliebten Sohnes Bryan erfährt, sehen wir ihn zwar verzweifelt – aber die Szene wird nicht in einem lauten Gefühlsausbruch gezeigt, sondern in einer stummen Sequenz: Barry sitzt ohnmächtig am Sterbebett, und Kubrick blendet zu einem betenden Pfarrer über. Die eigentliche Trauer wird später nur in einer stummen Einstellung sichtbar, in der Barry und Lady Lyndon gemeinsam, doch emotional voneinander getrennt trauern.

Diese Zurückdrängung der Emotionen ist von Kubrick bewusst intendiert. Er inszeniert die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts als Welt der Form, nicht des Gefühls. Die Etikette verlangt Fassung – und Kubrick überträgt diese Fassung bis ins Schauspiel. Es gibt im gesamten Film nur wenige Momente, in denen Emotion ungefiltert hervorbricht. Einer davon ist das Duell zwischen Barry und Bullingdon am Ende: Hier zeigt Barry Nervenflattern, Angst und letztlich eine Regung von Großmut (als er absichtlich daneben schießt), während Bullingdon zitternd und wutentbrannt agiert. In dieser Szene „fallen die Masken“ einmal, und Barry wird eindeutig sympathisch gezeichnet – erstmals wirkt er emotional offener als sein adeliger Kontrahent . Doch solche Momente sind Ausnahmen. Insgesamt zieht Kubrick es vor, die Charaktere wie Schachfiguren ihres Schicksals wirken zu lassen – eingeordnet in starre Strukturen, aus denen sie nicht ausbrechen. Folgerichtig sind viele Figuren um Barry herum nur schemenhaft oder typisiert charakterisiert: der bigotte Hofprediger Runt (Murray Melvin) mit seiner stillen Abneigung gegen Barry, die gierige, intrigante Mutter (Marie Kean), der dekadent-schwache Chevalier de Balibari (Patrick Magee) etc. Kubrick meinte dazu, dem Zuschauer würden ohnehin alle nötigen Informationen zu den Figuren gegeben; ausführliche psychologische Motivationsstudien fände er langweilig . Ein kleiner Blick oder eine Geste – etwa das feine Lächeln der Genugtuung, das Reverend Runt zeigt, als Barry am Ende verbannt wird – solle genügen, um die innere Haltung der Nebenfiguren zu verstehen.

Man kann diese Regiehaltung als kühl oder distanziert empfinden, doch sie hat Methode. Kubricks Werk durchzieht das Thema der Entmenschlichung und der Ohnmacht des Individuums gegenüber größeren Mächten . In Barry Lyndon zeigt er dies explizit durch die Zurückdrängung von Emotionen: Die Menschen wirken beinahe wie Automaten, die ihren gesellschaftlichen Pflichten folgen – ähnlich wie Alex in Uhrwerk Orange am Ende als „Uhrwerk-Orange“ erscheint . Diese tiefe Skepsis Kubricks gegenüber der Wirkmächtigkeit individueller Leidenschaft zieht sich hier durch: Weder Barry noch Lady Lyndon können letztlich ihrem vorgezeichneten Weg entrinnen. Obwohl sie handeln – Barry betrügt, kämpft, steigt auf; Lady Lyndon trotzt kurz Barrys Kontrollwut mit einem Selbstmordversuch – bleibt doch das Gefühl, dass die Figuren getrieben werden, nicht aktiv ihr Schicksal gestalten. Selbst Barrys Entscheidungen scheinen oft fremdbestimmt: aus der Situation heraus, durch andere aufgezwungen oder durch seinen Charakter vorgegeben. Folglich erleben wir Barry weniger als psychologisch ausgeformte Person, sondern eher als Medium oder Vermittler, der uns durch die Schichten der Gesellschaft führt. Er repräsentiert den Jedermann, an dem die Einflüsse der Zeit demonstriert werden – ein notwendiges Übel für die Gesellschaft, aber nie wirklich Teil von ihr.

Trotz dieser distanzierten Zeichnung gelingt es den Hauptdarstellern, dem Zuschauer punktuell Empathie zu entlocken. Gerade weil Barry so zwiespältig, oft passiv und dann wieder skrupellos ist, weiß man nie genau, wie man zu ihm stehen soll – man empfindet eine Mischung aus Anziehung und Abstoßung, ähnlich wie Thackeray es intendierte. Kubrick selbst beschrieb Barry als „weder ein konventioneller Held noch ein Schurke“, sondern einen realistischen Charakter mit Charme und Mut, aber auch Eitelkeit und Schwächen. Diese Ambivalenz spiegelt sich in O’Neals Spiel: Man kann Barry nicht wirklich lieben, aber auch nicht völlig hassen; er bleibt ein Mensch mit nachvollziehbaren Träumen und Fehlern. Am Ende, wenn Barry schwer verwundet und sozial vernichtet die Bühne verlässt, empfindet man durchaus Mitleid – eben weil Kubrick uns nicht einen strahlenden Helden genommen hat, sondern einen fehlbaren Menschen, dessen Scheitern eine tragische Dimension erreicht. Ein Kritiker formulierte das so: Am Ende verspürt man „ein Gefühl völliger Vergeudung“ – all das Schöne, all der Aufwand, all Barrys Mühen erscheinen als letztlich vergeblich und verschwendet. Diese tragische Note entsteht gerade durch das zurückhaltende Schauspiel: Hätte Kubrick Barry als leidenschaftlichen Helden inszeniert, wäre sein Fall melodramatisch; so aber wird er mit kühler Beobachtung zum Menetekel für menschlichen Hochmut und Vergänglichkeit.

Zusammengefasst zeichnet Kubrick seine Figuren – insbesondere durch die Schauspielregie – bewusst im Einklang mit dem Filmthema: Form schlägt Emotion. Die Darsteller werden Teil des ästhetischen Konzepts; sie agieren wie Figuren in einem großen Gemälde der Gesellschaft, oft maskenhaft, in Pose, aber nicht leblos. Denn unter der Oberfläche brodelt es durchaus: Man spürt Lady Lyndons stille Verzweiflung, Barrys frustrierte Sehnsüchte, Bullingdons kalten Hass. Kubrick lässt uns diese Gefühle erahnen, ohne sie auszusprechen. So bleibt um die Figuren eine Aura des Rätselhaften – was sie umso glaubwürdiger in dieser erstickenden Gesellschaft macht. Und letztlich dienen die Darsteller Kubricks bittersüßer Vorstellung einer Welt, „deren Geschichte selbst mit größter Anstrengung weder von äußeren noch inneren Kräften verändert werden kann“ . Die Figuren repräsentieren Zustände und Ideen (Naivität, Dekadenz, Ehrgeiz, Bigotterie etc.) mehr als individuelle Biographien. In dieser stilisierten Darstellungsweise liegt ein großer Teil des cineastischen Reizes von Barry Lyndon: Man schaut diesen wie Geister durch vergangene Räume wandelnden Figuren fasziniert zu und erkennt in ihrem stummen Spiel eine tiefe Wahrheit über die Ohnmacht des Menschen im Räderwerk der Zeit.

Einsatz von Voice-over und Erzähler
Ein zentrales erzählerisches Mittel in Barry Lyndon ist der Voice-over-Erzähler. Kubrick entschied sich, im Gegensatz zur Romanvorlage (die aus Barrys Ich-Perspektive erzählt ist), einen allwissenden dritten Erzähler einzusetzen. Dieser Erzähler – gesprochen im Original von Michael Hordern mit trocken-ironischer britischer Intonation – führt mit kommentierenden Off-Texten durch die Handlung. Der Kunstgriff hat mehrere Funktionen und Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Films.

Erstens ermöglicht der Erzähler eine ökonomische Vermittlung von Informationen. Kubrick selbst betonte, dass die Geschichte sehr umfangreich sei und ein Voice-over ein elegantes Mittel biete, Fakten und Übergänge mitzuteilen, ohne schwerfällige Expositionsdialoge inszenieren zu müssen. Statt etwa einer Szene, in der Figuren künstlich erklären „Wir haben kein Geld mehr, weil du es im Spiel verloren hast“, übernimmt der Erzähler diese Aufgabe in einem Satz – präzise und nüchtern. So wird z.B. der Zeitsprung von Barrys Heirat zum Familienleben auf dem Landsitz mittels Erzähler in wenigen Momenten überbrückt. Diese Technik verleiht dem Film etwas Literarisches: Er wirkt stellenweise tatsächlich wie ein vorgelesener Roman, in dem Passagen zusammengefasst werden. Kubrick verteidigte das Voice-over ausdrücklich als „völlig legitimes und ökonomisches Mittel“, um erzählerische Informationen zu vermitteln, die keine szenische Ausarbeitung mit dramatischem Gewicht benötigen.

Zweitens dient der Erzähler als ironischer Kommentator. Viele Voice-over-Passagen sind mit feiner Süffisanz geschrieben – oft von Thackerays eigenen Formulierungen inspiriert – und stehen in spannendem Kontrast zu dem, was man auf der Leinwand sieht. Ein Beispiel ist die erwähnte Szene mit dem deutschen Bauernmädchen: Während Barry zärtlich mit ihr anbändelt (und der Zuschauer fast einer romantischen Verführung beiwohnt), kommentiert der Off-Erzähler nüchtern, dass diese junge Dame „ähnlich wie eine Stadt, die oft durch Belagerung eingenommen wurde, schon viele Eroberer erlebt hat“. Mit einem Schlag wird die sentimentale Stimmung entlarvt – wir erkennen, Barry ist nicht ihr erster Liebhaber und vermutlich auch nicht ernsthaft an ihr interessiert außer körperlich. Solche Momente erzeugen einen komischen Effekt durch Diskrepanz: Die Bilder mögen etwas anderes suggerieren als das, was der Erzähler trocken ausspricht. Kubrick erklärt hierzu, dass Barry natürlich im Spiel der Verführung so überzeugend wie möglich auftritt – würde er zwinkern und dem Publikum zeigen, dass er lügt, wäre das unrealistisch, denn wenn wir täuschen, tun wir es so überzeugend wie möglich. Daher übernimmt der Erzähler die Rolle, die Wahrheit als ironischen Kontrapunkt zu liefern. Der Film nutzt diese Technik häufig, um Sentimentalitäten zu unterlaufen und dem Geschehen eine satirische Note zu geben, ähnlich wie Thackerays Roman eine Satire auf die Gesellschaft war.

Drittens – und am wichtigsten – etabliert der Voice-over eine Dramaturgie des Vorwegnehmens. Wie bereits bei der Erzählstruktur erwähnt, nimmt der Erzähler essenzielle Wendungen der Handlung vorweg: Er kündigt an, dass Barry Captain Quinn im Duell gar nicht getötet hat (noch bevor Barry selbst es erfährt), oder dass Barrys neu geborenes Söhnchen „nicht lange leben“ wird, noch während wir es als Säugling sehen. Dieses Antizipieren hat Kubrick bewusst von Thackeray übernommen: Im Roman lässt Thackeray seinen (unzuverlässigen) Ich-Erzähler Barry Lyndon ebenfalls viele Dinge im Voraus andeuten, um der Geschichte den Reiz der Ironie und das Schicksalshafte zu geben . Kubrick überträgt dieses Prinzip ins Voice-over und erzielt damit den schon beschriebenen Effekt, dass der Film nicht auf Überraschung, sondern auf Unabwendbarkeit setzt. „Thackeray verzichtet auf den Vorteil der Überraschung zugunsten eines stärkeren Gefühls der Unvermeidlichkeit“, so Kubrick. Indem der Erzähler die Zukunft verrät, entsteht beim Zuschauer anstelle von klassischer Spannung eher ein wissendes Vorausblicken: Man wartet geradezu darauf, dass das angekündigte Unglück eintritt, und erlebt die Szenen davor in einem anderen Licht. Kubrick vergleicht das, wie erwähnt, mit der Titanic: Wüsste man nicht, dass das Schiff sinkt, wären die fröhlichen Auslauf-Szenen nur nett – mit dem Wissen aber lasten sie unheilvoll und bekommen Tiefe . Genauso ist es, wenn wir Barry und seinen Sohn glücklich tollen sehen, während die Stimme uns schon verrät, dass das Kind bald sterben wird: Die Idylle wird tragisch aufgeladen.

Die Wirkung des Voice-overs ist somit zweigeteilt: Es schafft Distanz und Verbundenheit zugleich. Distanz, weil es die emotionale Beteiligung immer wieder „abkühlt“. Kubrick nutzt den Off-Kommentar tatsächlich manchmal gezielt, um Emotionen einzufangen und auf Distanz zu halten. Direkt nach sehr bewegenden Momenten meldet sich gern der Erzähler und fasst sachlich zusammen, was das Publikum fühlen soll. Als etwa Lady Lyndon nach Barrys endgültigem Niedergang im Epilog einen Scheck ausstellt, konstatiert die Erzählstimme trocken die Gleichgültigkeit, mit der sie Barrys Namen von der Zahlungsliste streicht – ein Akt, der ohne Kommentar vielleicht mehr stille Tragik entfalten würde. Doch durch den Kommentar bleibt das Geschehen stets im Rahmen eines beobachteten Experiments, nicht eines miterlebten Dramas. Auf der anderen Seite stiftet die Erzählerstimme aber auch eine gewisse Intimität mit dem Zuschauer: Wir werden ins Vertrauen gezogen, bekommen Hintergrundwissen und Einschätzungen, die den Figuren auf der Leinwand mitunter fehlen. Insofern fungiert der Erzähler als Vermittler zwischen Film und Publikum, fast wie ein höfischer Chronist, der uns die wahren Begebenheiten zuflüstert.

Kubrick hat mit diesem Einsatz des Voice-overs einen bewussten Gegensatz zum Roman gewählt. In Thackerays Buch erzählt Barry Lyndon selbst (auf prahlerisch-verlogene Weise) seine Geschichte, was literarisch viel Ironie erzeugt. Kubrick meinte jedoch, im Film könne man den unzuverlässigen Erzähler nicht ebenso verwenden, da das Publikum die objektiven Bilder sieht und ein lügender Off-Text eher als Parodie wahrgenommen würde. „Es hätte als Komödie funktionieren können – durch die Juxtaposition von Barrys Version und der Realität im Bild – aber ich denke, Barry Lyndon sollte nicht als Komödie gemacht werden“, sagte er . Also wählte er einen allwissenden, im Tonfall neutralen Erzähler. Neutral heißt hier: emotionslos, aristokratisch unterkühlt, aber eben nicht allwissend-göttlich im Sinn einer moralischen Instanz, sondern eher chronistisch und mit feinem Augenzwinkern. Die Figur des Erzählers selbst tritt nie in Erscheinung; er bleibt namenlos. Doch in seiner Wortwahl (besonders in der englischen Fassung) klingt er wie ein vornehmer Gentleman des 19. Jahrhunderts, der aus historischen Aufzeichnungen zitiert. Damit verleiht er dem Film nochmals eine literarische, zeitgenössische Ebene – die Geschichte von Barry Lyndon wirkt tatsächlich wie eine Episode, die später in einem Almanach oder Geschichtsbuch nachzulesen ist.

In der Rezeption von 1975 wurde dieser Einsatz der Off-Stimme kontrovers gesehen. Einige empfanden ihn als zu dominant und die emotionale Identifikation störend. Wie Rolling Stone anmerkte, war der „lethargische Erzähler, der mehr als einmal entscheidende Details vorwegnimmt und so jede Spannung im Keim erstickt“, sicherlich ein Grund dafür, dass viele den Film als langweilig empfanden. Denn er widerspricht den Konventionen des Hollywood-Kinos, das typischerweise die Handlung mit Überraschungen und emotionaler Zuspitzung trägt. Kubrick allerdings war es wichtiger, den Modellcharakter der Geschichte sichtbar zu machen, als das Publikum in Thrill zu versetzen. So kann man das Voice-over auch als Teil seines experimentellen Ansatzes sehen, mit dem er das Genre Kostümfilm reflektierte und durchbrach. Heute erkennt man darin eher die Raffinesse: Die Erzählstimme in Barry Lyndon gehört zu den denkwürdigsten Voice-overs der Filmgeschichte, weil sie so untypisch funktioniert – nicht wie die innere Stimme eines Helden, auch nicht wie der moralische Richter, sondern wie ein eleganter, aber leicht spöttischer Geschichtenerzähler am Kamin, der uns distanziert, aber doch fasziniert durch ein vergangenes Leben führt.

Kubricks Intentionen und thematische Ebene
Hinter Kubricks enormem Aufwand für Details und Ästhetik stand eine klare künstlerische Absicht. Er wollte mit Barry Lyndon kein gewöhnliches Historiendrama, sondern eine nahezu immersive Zeitreise schaffen. Sein Ziel war es, dass der Zuschauer sich optisch und emotional ins 18. Jahrhundert versetzt fühlt – als hätte ein Regisseur jener Epoche selbst den Film gedreht. Dies spiegelt sich in allen Entscheidungen wider: der authentischen Ausstattung, der Verwendung historischer Musik, der Kerzenlicht-Technik. Kubrick plante ursprünglich einen Film über Napoleon und hatte dafür jahrelang Material gesammelt. Nachdem dieses Projekt scheiterte, floss viel von dieser akribischen Recherche in Barry Lyndon ein. Er war fasziniert von der Möglichkeit, die Schönheit der Kunst jener Zeit im Medium Film zum Leben zu erwecken: „Ich versuchte, die Schönheit barocker Malerei und Musik filmisch erlebbar zu machen und das Leben jener Zeit authentisch wiederzugeben“ , so Kubrick. Tatsächlich ist Barry Lyndon weniger ein Film über das 18. Jahrhundert als ein Film, der die Kunst des 18. Jahrhunderts feiert und durchdringt.

Doch Kubrick ging es nicht um romantische Verklärung. Sein Blick auf die Epoche ist distanziert, analytisch – man könnte sagen: aufklärerisch im wörtlichen Sinne, nämlich aufdeckend. Schon in der ersten Minute deutet er eines seiner wiederkehrenden Themen an: die Machtlosigkeit des Menschen gegenüber einem größeren Plan. Der Tod von Barrys Vater gleich zu Beginn wird ohne melodramatische Gefühlsregung geschildert; die Kamera bleibt weit weg, als wolle sie sagen: Seht, es geschieht, aber die Welt dreht sich weiter, ungerührt. Diese Idee, dass persönliche Schicksale im großen Rad der Geschichte klein und unwichtig sind, zieht sich durch den Film. Kubrick rekonstruierte zwar das Zeitalter mit unerhörter Akribie, aber er schafft gleichzeitig eine spürbare Distanz zwischen dem Geschehen und dem heutigen Zuschauer . Indem er die historische Realität so konsequent nachbildet (z.B. das Kerzenlicht), entsteht eine Fremdheit, die uns bewusst macht, wie weit weg diese Zeit ist – beinahe unüberbrückbar. Diese Fremdheit war durchaus beabsichtigt: Sie fungiert als Kontrast zur Idee der Aufklärung, alles hell und verständlich zu machen . Kubrick zeigt eine Vergangenheit, die wie ein versiegeltes Gemälde ist – wir können sie bestaunen, aber nicht mehr ganz hineingelangen. In gewisser Weise ist Barry Lyndon somit auch ein Film über die Vergänglichkeit: „Was bleibt, ist Kunst, die eine längst vergangene Welt immer wieder neu erfahren lässt“, heißt es treffend in einer Analyse. Kubrick scheint zu suggerieren, dass nur durch Kunst (hier: durch Film als lebendiges Gemälde) diese Epoche trotzig gegen das Vergessen behauptet werden kann . Doch zugleich zeigt er die Kluft: Trotz aller Perfektion wirkt die vergangene Welt seltsam entrückt und unwirklich, als schaue man durch ein vergilbtes Fenster in eine andere Zeit.

Themenatisch verhandelt Kubrick in Barry Lyndon klassische Motive: Ambition, Klasse, Schicksal, Schein vs. Sein. Redmond Barry ist der Archetyp des Emporkömmlings, des Außenseiters, der in die feine Gesellschaft eindringt. Doch Kubrick erzählt seine Geschichte ohne die üblichen romantischen Verbrämungen. Barry ist kein Robin Hood und auch kein raffiniert-boshafter Soziopath – er ist, wie Kubrick sagte, „naiv und ungebildet, getrieben von unbändigem Ehrgeiz nach Reichtum und sozialer Stellung“ . Diese Mischung führt ihn ins Unheil, und auch die Menschen um ihn herum leiden darunter. Thackeray nannte das Buch „einen Roman ohne Helden“, und Kubrick inszeniert entsprechend einen Film ohne Identifikationshelden. Wir betrachten Barry eher von außen, als Beispiel für jemanden, der unbedingt nach oben will und daran zerbricht. Darin liegt ein gewisser sozialkritischer Pessimismus: Es scheint irrelevant, ob jemand Talent oder moralische Qualitäten hat – entscheidend ist die Geburt. Barry versucht, dieses System zu überlisten, aber letztlich scheitert er genau an den rigiden Regeln der Klasse, in die er nicht hineingeboren wurde. Kubrick zeigt also die Gesellschaftsordnung des 18. Jahrhunderts als ein festgefügtes Gefüge, in dem Außenseiter allenfalls temporär geduldet werden, bis die Ordnung sich wieder herstellt (am Ende sitzt Barry verarmt im Exil, während Lady Lyndon und Bullingdon in ihren Kreisen rehabilitiert sind).

Dieser deterministische Unterton – dass jeder an seinen Platz verwiesen wird – fügt sich in Kubricks generelle Weltsicht, die oft als düster oder nihilistisch beschrieben wird. Allerdings besteht hier ein Unterschied: Barry Lyndon enthält auch Momente echter Menschlichkeit und Empathie, besonders in Barrys Liebe zu seinem Sohn. Diese zärtlichen Szenen (etwa wenn Barry mit dem kleinen Bryan auf dem Hügel spielt) sind die wenigen Farbkleckse von unverfälschter Emotion im Film. Dass Kubrick sie drin lässt und sogar betont (umso tragischer dann Bryans Tod), zeigt, dass er durchaus Mitgefühl für seine Figuren hat. Doch in der Gesamtschau bleibt die Aussage bitter: Am Ende sind alle Charaktere gleich – jetzt, da sie tot sind . Dieser letzte Satz des Epilogs (direkt Thackerays Roman entnommen) kann als zynisch-nihilistische Pointe gelesen werden oder als memento mori, je nach Interpretation. Kubrick selbst spielte die tiefere Bedeutung herunter und meinte, es sei „nur ein ironischer Nachsatz aus dem Roman“ . Aber natürlich hat er ihn bewusst als Schlusssatz gewählt, und er hallt nach: All die Kämpfe, all das Streben – letztlich enden wir alle im Staub der Geschichte.

Kubrick interessierte an der Epoche der Aufklärung weniger der historische Optimismus als ihr Modellcharakter für geistige Prinzipien. Er sah in der Vernunftverherrlichung der Aufklärung offenbar auch eine gewisse Leere. Barry Lyndon kann man als Kubricks Reflexion über die Grenzen der Vernunft lesen: Der Film ist inszenatorisch kühl, rational, „vernünftig“ in seinem Aufbau – doch was zeigt er? Eine Welt ohne echte Wärme, in der Vernunft oft nur Gleichgültigkeit bedeutet. Kubrick ließ die Emotionen in der Darstellung zunehmend erlöschen – vielleicht eine Analogie zur „reinen Vernunft“, die zwar Klarheit bringt, aber auch Entzauberung. Einige Interpreten meinen, Kubrick habe die Aufklärung deshalb fasziniert, weil sie zwar Glanz und Fortschritt brachte (wissenschaftlich, kulturell), aber eben auch die Gefühlskälte einer streng rationalen Sicht auf Menschen . In seinen Filmen taucht immer wieder das Motiv der Entmenschlichung durch Rationalität oder Autorität auf (man denke an 2001 mit dem kalten Computer HAL oder A Clockwork Orange mit der Verhaltenskonditionierung). In Barry Lyndon äußert sich dies subtil in den zwischenmenschlichen Beziehungen: Statt echter Individualität sieht man viel Rolle und Fassade; Individualität und Moral waren dem Jahrhundert ein Gräuel, der schöne Schein war alles, wie es in einer Analyse heißt. Barry und Lady Lyndon versuchen, „reine Form ohne Inhalt, Masken ohne Charakter“ zu werden – ganz im Stil ihrer Epoche. Kubrick schildert damit ein Zeitalter, in dem das Äußere triumphiert und Innerlichkeit verdrängt wird. Dies kann man als Kritik an der Gesellschaft des 18. Jh. lesen, aber auch als zeitlose Aussage über menschliche Gesellschaften, in denen Status und Oberfläche oft wichtiger sind als Tugend und Wahrheit.

Natürlich sind Kubricks Intentionen nie monokausal. Er war in erster Linie ein visueller Geschichtenerzähler und hat selbst gesagt, er verliebe sich einfach in Geschichten, ohne immer genau rationalisieren zu können warum . Bei Barry Lyndon aber kann man klar erkennen, was ihn reizte: die interessanten visuellen Möglichkeiten der Vorlage – so nannte Kubrick es selbst – und die Herausforderung, einen historischen Film ganz anders zu gestalten als üblich. Das Werk ist im Grunde Kubricks subjektive Vision des 18. Jahrhunderts, aber zugleich ein Kommentar über die Natur von Geschichte und Schicksal. Indem er den Zuschauer zum distanzierten Beobachter macht, entlässt er uns aus der typischen emotionalen Vereinnahmung. Wir sind aufgefordert, selbst Urteile zu fällen, Parallelen zu sehen, vielleicht uns zu fragen: War diese Zeit wirklich so anders als unsere? Sind die Menschen heute freier, individueller? Oder sind wir nur in anderen Kostümen die gleichen Rädchen im großen Getriebe?

Kubrick selbst war gewiss kein Nihilist im Sinne völliger Verneinung, aber seine Filme – auch Barry Lyndon – zeigen immer eine Spannung zwischen dem Wunsch zu glauben (an Fortschritt, an Sinn) und der Ernüchterung, dass vielleicht nichts Wesentliches sich ändert. Die epische Erzählung von Redmond Barry endet ohne Katharsis, ohne klare Moral. Man könnte sagen, Kubrick hat uns ein prachtvolles, betörendes Gemälde gezeigt und am Schluss in kleiner Schrift daruntergesetzt: „All the characters are now all equal.“ – Macht euch euren Reim darauf.

Rezeption und filmhistorische Einordnung
Barry Lyndon stieß bei seinem Kinostart 1975 auf ein geteiltes Echo. Kritiker lobten einhellig die visuelle Brillanz, die Kameraarbeit von John Alcott, das penible Produktionsdesign von Ken Adam und die authentischen Kostüme von Milena Canonero – all diese Gewerke wurden dann auch mit Oscars prämiert. Richard Schickel schrieb im Time Magazine, Kubrick demonstriere hier eine „einzigartige Vision, eine reife Meisterschaft seines Metiers und beinahe tollkühnen Mut“, was wohl die Zeit als letztlich großes Kino-Gemälde bestätigen werde. Man war sich weitgehend einig, dass Barry Lyndon bildlich „die vielleicht hinreißendsten Bildkompositionen überhaupt auf die Leinwand“ bringt und eine neue Referenz für historische Filme setzte. Gleichzeitig reagierten viele zeitgenössische Zuschauer und Kritiker irritiert oder unterkühlt. Das langsame Erzähltempo, die distanzierte Haltung und die Länge des Films (über 3 Stunden) führten dazu, dass das Urteil zunächst verhalten ausfiel. Manche empfanden das Werk als zu introspektiv und schwermütig. Insbesondere in den USA tat sich das Publikum schwer: Nachdem Kubrick zuvor mit Dr. Seltsam, 2001 und Uhrwerk Orange drei kontroverse, aber popkulturell wirkmächtige Filme in Folge geschaffen hatte, passte der „überlange Historienstreifen“ nicht so recht ins Schema. An den Kinokassen spielte der Film sein Budget zunächst nicht wieder ein – es war Kubricks einziger kommerzieller Flop, was sogar zur Folge hatte, dass das Studio ihn fortan zu Testvorführungen verpflichtete.

In Deutschland und Europa hingegen fand der Film schon damals etwas mehr Verständnis. Das Lexikon des internationalen Films etwa lobte Kubricks „konsequenten Stilwillen“ und den bis ins Detail künstlerisch kontrollierten Aufwand, der Barry Lyndon zu einem „großen, vielschichtigen Zeitporträt“ mache, in dem private und gesellschaftliche Dimensionen nahtlos verbunden sind . Die Wochenzeitung Die Zeit hob Kubricks epische visuelle Pracht hervor, die selbst den „delirischen Trip zu den Sternen“ in 2001 in den Schatten stelle. Gelobt wurde auch Kubricks Mut, Thackerays Vorlage treu zu bleiben, aber sie filmisch geschickt zu straffen – etwa durch die Erfindung des dramatischeren Endes mit dem Duell, das im Roman so nicht vorkommt. In der New York Times zeigte man sich erstaunt, dass ein derart unkonventioneller Kostümfilm überhaupt finanziert und ins Kino gebracht wurde – was als so verblüffend bezeichnet wurde wie der Film selbst. Doch neben solcher Anerkennung standen harsche Stimmen: Die renommierte Kritikerin Pauline Kael etwa fand den Film schön, aber seelenlos – als würde man drei Stunden lang jemandes aufwendig dekorierten Salon betrachten. Einige warfen Kubrick vor, er habe mehr an Oberfläche als an Figuren interessiert, der Film sei kalt und leer hinter der Fassade.

Über die Jahrzehnte hat sich der Ruf von Barry Lyndon jedoch deutlich gewandelt. Heute gilt der Film als Meisterwerk des Autorenkinos der 70er und als einer der besten Kubrick-Filme überhaupt. Das British Film Institute nahm ihn 2016 zum 41. Jubiläum wieder ins Kinoprogramm und viele spätere Filmemacher nannten ihn als Einfluss. 2005 schaffte es Barry Lyndon in die Time-Liste der 100 besten Filme aller Zeiten. Besonders die Fachwelt der Kameraleute bewundert ihn: Die Kerzenlicht-Technik und die malerische Komposition sind legendär und werden in Filmuniversitäten als Lehrbeispiele analysiert. Kaum ein Artikel über „Natural Lighting“ im Film kommt ohne Verweis auf Barry Lyndon aus. Mit den Jahren erkannte man, dass Kubricks Wagnis, ein großes Kostümdrama in der Ästhetik eines Kunstfilms zu drehen, Pioniercharakter hatte. Der Rolling Stone betitelte den Film rückblickend als „schönsten Film aller Zeiten“ und plädierte dafür, ihn als das zu würdigen, was er auch ist: den vielleicht „kostspieligsten und mutigsten Experimentalfilm aller Zeiten“.

Filmhistorisch nimmt Barry Lyndon eine Sonderstellung ein. Er kam in einer Dekade heraus, in der Historienfilme eher aus der Mode waren zugunsten aktuellerer, kritischer Stoffe. Dennoch fügt er sich in das Autorenkino jener Ära ein, wo Regisseure große Freiheiten genossen und persönliche Visionen umsetzen konnten. Kubrick nutzte diese Freiheit maximal: Er drehte ohne Rücksicht auf gängige Sehgewohnheiten, mit enormem Produktionsaufwand und Perfektionismus. Das Ergebnis war seiner Zeit vielleicht voraus. Martin Scorsese – selbst ein Meisterregisseur – bekannte: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich einen Lieblings-Kubrick-Film habe, aber irgendwie kehre ich immer wieder zu Barry Lyndon zurück. […] Die Leute haben ihn nicht verstanden, als er herauskam. Viele tun es bis heute nicht.“ Für Scorsese ist der Film ein „zutiefst emotionales Erlebnis“ – vermittelt durch Kamerabewegung, langsames Tempo und das Zusammenspiel von Figuren und Umgebung, „ein Bild schöner als das nächste“, hinter dessen eleganter Fassade die Grausamkeit der Gesellschaft spürbar werde. Solche Würdigungen zeigen, dass Barry Lyndon inzwischen als das erkannt wird, was Kubrick vorschwebte: ein audiovisuelles Kunstwerk von großer emotionaler Wucht – aber einer Wucht, die unter der Oberfläche liegt.

Auch Kritiker, die den Film einst kühl sahen, änderten teils ihre Einschätzung. Das oft bemängelte langsame Erzähltempo wird heute eher als konsequenter Kunstgriff gesehen. Roger Ebert etwa schrieb in einer späteren Rezension, Barry Lyndon verlange Geduld, aber belohne den Zuschauer mit einem Gefühl, tatsächlich in eine vergangene Epoche eingetaucht zu sein. Die Distanz, so Ebert, erlaube es, über die Figuren und ihre Zeit nachzudenken, statt nur mitzufiebern – was einen tieferen Eindruck hinterlasse.

Zudem wurde im Nachhinein offenbar, wie einflussreich der Film war: Viele Regisseure von Historienfilmen – von Ridley Scott über Joe Wright bis zu Yorgos Lanthimos – haben Anleihen bei Kubricks Inszenierungsstil genommen, sei es die natürliche Beleuchtung, die gemäldeartigen Tableaus oder die ironische Verwendung von Musik.

In Kubricks eigener Filmografie markiert Barry Lyndon einen Abschluss und Übergang: Es war sein letzter „period piece“ und der stilistisch opulenteste Film. Danach wandte er sich mit Shining und Full Metal Jacket wieder moderneren Settings zu. Manche vermuten, die zunächst lauwarme Resonanz habe ihn ernüchtert, sodass er nie wieder ein so reines Kunstprojekt wagte. Dennoch gewann Barry Lyndon vier Oscars (Kamera, Ausstattung, Kostüm, adaptierte Musik) und festigte Kubricks Reputation als kompromissloser Auteur. Heute wird der Film oft in einem Atemzug mit Kubricks Großtaten genannt, und sogar populärkulturell taucht er auf (z.B. referenzieren Serien wie The Simpsons oder Family Guy humorvoll die ikonische Duell-Szene).

Zusammenfassend lässt sich sagen: Barry Lyndon wurde vom missverstandenen Stiefkind zu einem strahlenden Juwel des Weltkinos. Was beim Erscheinen als Schwäche angesehen wurde – die strenge Form, die Langsamkeit, die Kühle – wird nun als Stärke erkannt, als Ausdruck einer konsequenten Vision. Kubricks Intentionen, einen Film wie ein lebendes Gemälde zu schaffen und den Geist einer Epoche einzufangen, gelten als erfüllt. Barry Lyndon ist heute ein Referenzwerk der Filmästhetik: ein Beweis dafür, dass Kino nicht nur Geschichten erzählen, sondern auch Geschichte erfahrbar machen kann – mit allen Sinnen und auf tiefgründige, nachdenkliche Weise. Es ist ein Film, der Zeit braucht, aber Zeitlosigkeit erreicht hat.

Filmkritik: Guillermo del Toros Frankenstein

10. November 2025

Ja, ich habe auf diesen Film hingefiebert, weil ich die Thematik absolut faszinierend finde. Endlich Frankenstein von Guillermo del Toro, den ich gerne im Kino gesehen hätte, aber dann eben auf Netflix zu sehen bekam.

Guillermo del Toros Frankenstein (Netflix, 2025) ist eine leidenschaftliche Neuinterpretation von Mary Shelleys klassischem Roman – überraschend werkstreu und doch unverkennbar geprägt von del Toros Handschrift. Die Rahmenhandlung beginnt – wie in der Vorlage – im hohen Norden im Jahr 1857: Ein dänischer Polarkapitän (Lars Mikkelsen) stößt in der arktischen Eiswüste auf den geschwächten Wissenschaftler Viktor Frankenstein (Oscar Isaac) und eine gewaltige Kreatur (Jacob Elordi), die ihren Schöpfer unerbittlich jagt. Nachdem die Mannschaft das Wesen vorübergehend überwältigen kann, warnt Viktor eindringlich, das „Monster“ werde zurückkehren und nicht ruhen, bis es ihn vernichtet hat. Der erste Teil hatte mich schon gefesselt.

In Rückblenden entfaltet der Film Viktors Vorgeschichte und Obsession: Angetrieben vom traumatischen Verlust seiner Mutter Claire (die im Kindbett starb) verfällt Viktor dem Größenwahn, den Tod zu besiegen. Gegen die moralischen Bedenken seiner Zeitgenossen experimentiert er besessen mit der Erschaffung von Leben aus toter Materie. Ein wohlhabender Gönner, Henrich Harlander (großartig wieder Christoph Waltz), fördert Viktors unmenschliche Experimente aus eigenen Motiven und verschafft ihm die nötigen Ressourcen, um in einem gewaltigen, gotischen Turmlabor sein unheiliges Werk zu vollenden. In einer unvergesslichen Szene durchsucht Viktor ein schlachtfeldgleiches Leichenhaus nach „geeigneten“ Körperteilen und setzt in grotesker Präzision einen neuen Menschen aus Leichenteilen zusammen – begleitet von Alexandre Desplats bizarr märchenhaftem Score, der in ironischem Kontrast zu den schauderhaften Bildern steht. Leider gibt es den Score bisher noch nicht auf Vinyl.

Schließlich haucht Viktor einem namenlosen Geschöpf Leben ein. Doch was als Triumph über den Tod gedacht war, entpuppt sich rasch als tragische Schöpfung: Die Kreatur – ein empfindsames, aber von Beginn an gequältes Wesen – sucht verzweifelt nach Identität, Liebe und Zugehörigkeit in einer Welt, die es als abstoßendes Monstrum behandelt. Del Toros Film richtet den Fokus dabei stets auf die großen Fragen, die schon Mary Shelleys Roman durchzogen: Was bedeutet es, Mensch zu sein? Was heißt es, Schöpfer oder Geschöpf – Vater oder Sohn – zu sein, Liebe zu suchen und verstanden zu werden? Entsprechend durchzieht Frankenstein ein existenzielles Grundthema: die Ambivalenz von Leben und Tod, Schöpfung und Verantwortung. Wie die Romanvorlage verhandelt der Film den Zwiespalt zwischen wissenschaftlicher Hybris und moralischer Verantwortung, zwischen der Sehnsucht, Grenzen zu überwinden, und den Konsequenzen, ein „neues Leben in die Welt zu bringen“ . Del Toro bleibt dabei der literarischen Vorlage bemerkenswert treu und beleuchtet dennoch neue Facetten: Frankenstein wird zu einer „düsteren Meditation darüber, was Menschsein bedeutet“, der der Film jedoch einen unerwartet hoffnungsvollen Unterton abgewinnt. So zeigt das Drama eindringlich, dass das Leben zwar Leid und Schmerz mit sich bringt, aber zugleich Schönheit in Akzeptanz und Vergebung liegen kann. Diese Haltung – typisch für del Toros von Empathie für Monster geprägtes Erzählen – macht seine Frankenstein-Adaption zu einem zutiefst humanistischen Werk, das über bloßen Horror hinausgeht.

Der Vater-Sohn-Konflikt zwischen Schöpfer und Geschöpf
Im Zentrum von del Toros Interpretation steht explizit der Vater-Sohn-Konflikt zwischen Viktor und seiner Kreatur – sowohl auf der Handlungsebene als auch im übertragenen, metaphorischen Sinn. Del Toro selbst betont, dass er die Geschichte primär „als Erzählung von Vätern und Söhnen“ gelesen hat. Viktor Frankenstein ist hier mehr noch als in früheren Versionen ein “Vater”, der ein künstliches Kind in die Welt setzt – jedoch ohne Liebe, Verantwortung oder Mitgefühl. Die Kreatur wiederum erlebt sich als verlassenes Kind, das von seinem „Vater“ verstoßen und misshandelt wird. Diese dynamische spiegelt einen klassischen Generationenkonflikt wider: Viktor verlangt von seiner Schöpfung blinden Gehorsam wie ein tyrannischer Vatergott, der keine Widerrede duldet. Tatsächlich behandelt er sein erschaffenes Wesen anfangs bloß als seelenloses „Es“, das er in Ketten legt und isoliert, aus Angst vor dem Urteil der Außenwelt und um seine eigene Hybris zu schützen. Doch je mehr die Kreatur Bewusstsein, Sprache und sogar Bildung erlangt, desto stärker wächst in ihr das Empfinden, ein eigenständiges Wesen – sein Sohn – zu sein, das ein Recht auf Leben und Achtung hat. Die Konflikte eskalieren, als der „Vater“ Viktor letztlich sogar versucht, sein Geschöpf zu töten – die extremste Form der Zurückweisung. An diesem kritischen Wendepunkt dreht del Toro die Perspektive des Films: Nun darf der “Sohn” – die Kreatur – seine Seite der Geschichte erzählen. Dieser erzählerische Kniff, der an Mary Shelleys wechselnde Erzählerstimmen anknüpft, verleiht dem zweiten Filmteil eine zutiefst tragische, aber auch humanisierende Note.

Die Kreatur begehrt gegen ihren Schöpfer auf wie ein enttäuschter Sohn, der gegen einen allmächtigen, grausamen Vater rebelliert . Der vormals gefügige “Adam” lehnt sich gegen seinen “Gott” auf – ein zentraler Konflikt, der in del Toros Version ins Herz der Erzählung rückt. Diese Vater-Sohn-Thematik wird im Film auch jenseits der direkten Beziehung Viktor–Monster vielschichtig reflektiert. So findet die Kreatur in der Welt der Menschen kurzzeitig Ersatzväter: Etwa nimmt sie Zuflucht bei einem blinden alten Mann (David Bradley), der sie ohne Vorurteile aufnimmt und wie ein gütiger Vater in die Menschlichkeit einführt. In der Abgeschiedenheit von dessen Heim erlebt das Geschöpf erstmals Fürsorge, lernt sprechen, liest über Adam und Eva und schöpft Hoffnung auf Akzeptanz. Diese Episode – eine Reminiszenz an die berühmte Blindenhütte-Szene aus Bride of Frankenstein (1935) – zeigt, wie bedürftig nach Liebe und Anleitung das geschundene “Kind” ist, das Viktor nie anerkennen wollte. Doch auch diese Idylle zerbricht: Als die Kreatur die ganze grausame Wahrheit ihrer Entstehung erfährt, schlägt kindliche Verzweiflung in rasende Wut um. Voll Zorn verflucht das Geschöpf den „Vater“, der ihm ohne zu fragen Leben gegeben und damit ein ewiges Dasein voller Einsamkeit auferlegt hat. Indem Viktor ihn erschuf, hat er ihm unwissentlich Sterblichkeit und Frieden verwehrt – ein Leben ohne die Gnade des Todes, das die Kreatur als unerträgliche Qual empfindet. In diesem Sinne thematisiert der Film den Vater-Sohn-Konflikt auch philosophisch: Der “Vater” Viktor schenkt Leben, aber kein sinnerfülltes Dasein; der “Sohn” leidet an dieser ungewollten Existenz und macht dem Vater bittere Vorwürfe dafür.

Bemerkenswert ist, wohin del Toro diesen Konflikt letztlich führt. Anstatt – wie viele frühere Versionen – in auswegloser Tragödie zu enden, sucht der Film nach Erlösung durch Verständnis und Vergebung. Im finalen Aufeinandertreffen in der Arktis, wenn Schöpfer und Geschöpf einander ihre Erlebnisse und Gefühle schildern, durchbricht del Toro den Teufelskreis aus Vorwürfen und Vergeltung. Die Kreatur bringt das außergewöhnliche Mitgefühl auf, Viktor auf dem Sterbebett tatsächlich zu verzeihen. Dies ist der emotionale Höhepunkt des Films: Der „Sohn“ vergibt dem fehlbaren „Vater“ – ein Moment, der in Shelleys Roman so nicht vorkommt und der den Kern von del Toros eigener Aussage ausmacht. Der Regisseur hat betont, er wollte die „Kette des Schmerzes“, die von Vätern an Söhne weitergegeben wird, sichtbar machen und am Ende durch Vergebung durchbrechen. In Interviews beschreibt del Toro diese Deutung als zutiefst persönlich: Hätte er den Film in jüngeren Jahren gemacht, so sagt er, wäre es wohl nur das Klagelied eines Sohnes über seinen Vater gewesen – doch nun, selbst im Alter eines Vaters, erzähle er von der Sehnsucht nach Vergebung eines Vaters, „der ursprünglich selbst ein Sohn war und merkt, dass er seiner Rolle nicht gerecht wird“. Diese introspektive Sicht fließt direkt in den Film ein: Viktors Hybris und Scheitern wirken auch wie ein tragisches Erbe – ein unbewältigter Schmerz, den er an sein „Kind“ weitergibt. Erst indem das Geschöpf diesen Kreislauf mit einem Akt der Vergebung beendet, wird ein Ausweg aus der generationsübergreifenden Schuld sichtbar.

Im übertragenen Sinne steht der Vater-Sohn-Konflikt hier also für generelle Muster von Versagen und Vergebung zwischen Generationen. Frankenstein erzählt davon, wie schwer es ist, als Vater die eigenen „Schatten“ nicht an die Kinder weiterzugeben, und wie befreiend es sein kann, diesen Teufelskreis von Vorwürfen und Wut zu durchbrechen. So findet del Toro in der finsteren Mythosvorlage eine zutiefst menschliche Botschaft: dass am Ende Verständnis und Vergebung möglich sind, selbst zwischen Schöpfer und Geschöpf, Vater und Sohn. Dieser versöhnliche Unterton – „einer meiner hoffnungsvollsten Schlusspunkte überhaupt“, wie del Toro ihn nennt – hebt den Film deutlich von früheren, oft nihilistischeren Frankenstein-Adaptionen ab.

Filmhistorische Bezüge
Del Toros Frankenstein ist nicht nur ein Einzelwerk, sondern steht bewusst im Dialog mit der reichen filmhistorischen Tradition der Frankenstein-Thematik und des klassischen Horrorfilms. Der Regisseur, selbst bekennender Monsterliebhaber, hat Mary Shelleys Schöpfung als „sein persönliches heiliges Buch“ bezeichnet – schon als Kind war er besessen von Boris Karloffs ikonischer Verkörperung des Monsters aus den Universal-Studios der 1930er. Es verwundert daher nicht, dass sein Film zahlreiche Anspielungen und Hommagen an frühere Adaptionen enthält, zugleich aber traditionelle Motive weiterentwickelt.

Besonders deutlich erkennbar sind die Einflüsse der Universal-Horror-Klassiker unter Regisseur James Whale. Del Toro orientiert sich in Stimmung und Figurenzeichnung an Whales Frankenstein (1931) und Bride of Frankenstein (1935), die erstmals das Monster als fühlendes Wesen mit tragischer Seele darstellten. Glenn Kenny hebt hervor, dass del Toro Whales Ansatz der Humanisierung des Geschöpfs noch erweitert und vertieft hat. Visuelle Zitate an Whales Filme finden sich zuhauf: Vom gewaltigen Turm-Laboratorium mit prasselnden Elektrizitätsapparaturen bis hin zur berühmten Blindenhütte-Sequenz (im Original freundet sich das Monster mit einem blinden Einsiedler an) beschwört del Toro die Atmosphäre der 30er-Jahre-Universalfilme . Kenner „werden visuelle Anleihen bei Whale erkennen“, so Kenny . Doch wichtig ist: Frankenstein (2025) verlässt sich nicht auf bloße Nostalgie oder augenzwinkernde Zitate. Del Toro „lehnt sich nicht zu sehr in seine Bewunderung der Filmtradition“, sondern erzählt die Geschichte ernsthaft und leidenschaftlich, ohne ironisches Augenzwinkern. So ehrt er Whale, indem er dessen Geist – den empfindsamen, poetischen Horror – weiterführt, statt nur oberflächliche Referenzen einzustreuen. Ein Beispiel ist das sprechende Monster: Anders als Karloffs stummes, grunzendes Geschöpf darf Elordis Kreatur in del Toros Fassung ausdrucksstark sprechen und lesen. Damit kehrt der Film zu Shelleys Romanfigur zurück – einem eloquenten, philosophierenden Wesen – und korrigiert das gängige Popkultur-Bild des stummen Monsters. Dies zeigt del Toros Anspruch, die klassischen Vorbilder liebevoll zu zitieren, aber zugleich zu übertreffen, indem er Aspekte beleuchtet, die früher vernachlässigt wurden.

Neben Whale spürt man auch den Einfluss der farbintensiven Hammer-Horror-Adaptationen der 1950er und 60er Jahre. Filme wie The Curse of Frankenstein (1957) mit Peter Cushing brachten erstmals blutige Details und schillernde Gothic-Bilder in die Frankenstein-Filmwelt – Elemente, die del Toro ebenfalls aufgreift. Sein Frankenstein verbindet die düstere Gotik der Universal-Ära mit der „reißerischen Farbpalette und Melodramatik“ der Hammer-Filme. So scheut del Toro nicht vor expliziterem Grauen zurück: Der Anblick der „zusammengeflickten Leichenteile“ und die ganze Schöpfungssequenz sind in ihrer makabren Detailfülle deutlich näher am Hammer-typischen Schauer als an Whales eher zurückhaltender Darstellung. Auch in der Charakterzeichnung Viktors als zunehmend skrupelloser Wissenschaftler, der über Leichen geht, schwingt etwas von Cushings schonungsloser Frankenstein-Interpretation mit. Dennoch meidet del Toro plakative Effekthascherei: Gewalt und Schrecken dienen stets der Tragik der Geschichte und der Figurenzeichnung, nie Selbstzweck. Gerade dadurch entwickelt er die klassischen Vorbilder weiter – er fügt dem bekannten Frankenstein-Mythos neue seelische Tiefe hinzu, anstatt bloß Altbekanntes zu reproduzieren.

Darüber hinaus zollt die Inszenierung auch dem deutschen Expressionismus und weiteren frühen Horrorklassikern Tribut. Visuell beschwört del Toro immer wieder expressionistische Stimmungen herauf: verzerrte Licht- und Schatteneffekte, die die innere Zerrissenheit der Figuren spiegeln. Insbesondere Viktors Labor wird mit dramatischen Schattenspielen und scharfem Hell-Dunkel kontrastiert in Szene gesetzt – ein bewusster Verweis auf Meilensteine wie Das Cabinet des Dr. Caligari (1920), wo extremer Schattenwurf Wahnsinn und Alptraum symbolisierte . Wenn die riesenhafte Silhouette der Kreatur in einem flackernden Kellergewölbe auftaucht, fühlen wir uns an die unheimlichen, verzerrten Bilder der Stummfilm-Ära erinnert. Ebenso arbeitet del Toro mit klassischen Gothic-Versatzstücken: Verwunschene Friedhöfe bei Sturm, kerzenbeleuchtete Schlossgemächer und hochaufragende, turmbewehrte Gebäude entstammen direkt der Schauerromantik, die schon Shelleys Roman prägte. Indem der Film „Turm-Burgen, Kerzenschein und sturmgepeitschte Friedhöfe“ zeigt, beschwört er das gotische Erbe auf der Leinwand herauf, das seit 200 Jahren immer neue Filmemacher inspiriert. Hier knüpft del Toro auch bewusst an die Ikonografie von Whales 1931-Verfilmung an, die Shelleys neblige Berglandschaften in „gewaltige Labor-Sets“ verwandelte.

Zahlreiche weitere filmische Anklänge lassen sich ausmachen: So erinnert die teilweise verhüllte, narbige Physiognomie der Kreatur an den maskierten Phantom der Oper (1925) – ein Gesicht, das Schrecken und Tragik zugleich in sich trägt. Auch moderne filmische Einflüsse blitzen auf: Del Toros Erzählstruktur mit Rückblenden und wechselnden Perspektiven evoziert eine Art psychologischen Horror, der an neuere Thriller erinnert (beispielsweise wurde Martin Scorseses Shutter Island als Vergleich angeführt). Doch im Kern ist Frankenstein (2025) vor allem eine Liebeserklärung an die Monsterfilme vergangener Zeiten. Del Toro verwebt „jahrzehntelange visuelle Traditionen des Horrorkinos: expressionistische Schatten, gothic-Grandeur, das Wissenschaftsblasphemie-Motiv der 1930er und die tragischen maskierten Monster“ zu etwas Eigenem. Damit positioniert sich der Film filmhistorisch sowohl als Hommage wie auch als innovativer Beitrag: Ein Werk, das die Vergangenheit reflektiert und mit neuen Ideen belebt. In seinem Frankenstein stecken überdeutlich die Inspirationen der filmischen Vorväter – doch del Toro „mischt beide Ansätze und fügt seine eigene Betonung auf tragische Schönheit hinzu“. Dadurch gelingt ihm ein bemerkenswertes Kunststück: Seine Version wirkt vertraut und doch neuartig, zutiefst respektvoll gegenüber den Vorbildern und trotzdem unverkennbar von persönlicher Vision getragen.

Visuelles und stilistisches Konzept
Visuell reiht sich Frankenstein nahtlos in Guillermo del Toros Œuvre ein, das für opulente Bildgestaltung, liebevolles Produktionsdesign und eine märchenhaft-düstere Atmosphäre bekannt ist. Gleichzeitig setzt der Film einige eigene Akzente und variiert bekannte Stilmittel, gerade im Vergleich zu Werken wie Crimson Peak (2015), Pans Labyrinth (2006) oder The Shape of Water (2017).

Kameraarbeit und Inszenierung
Del Toros Stamm-Kameramann Dan Laustsen, der bereits Crimson Peak, The Shape of Water und Nightmare Alley fotografierte, sorgt auch in Frankenstein für atemberaubende Bildkompositionen. Die Kamera ist ständig in Bewegung – sie gleitet und schwebt förmlich durch die prächtigen Settings, was dem Zuschauer ein Gefühl verleiht, durch del Toros weitläufige Welt zu treiben. Dieses dynamische „Mitschwimmen“ erinnert an die fluiden Kamerabewegungen in The Shape of Water, wo oft ein schwereloser, wasserähnlicher Effekt erzeugt wurde. In Frankenstein nutzt Laustsen die Bewegung, um die Schauplätze – vom eisigen Schiffdeck über das prächtige Anwesen der Frankensteins bis zum unheimlichen Labor – in voller Pracht zu enthüllen . Jeder Kameraschwenk offenbart dabei Details und Tiefe der Szenerie, ähnlich wie Crimson Peak mit schwelgerischen Fahrten durch das viktorianische Spukhaus Allerdale Hall die opulente Ausstattung zelebrierte. Ergänzt wird dies durch einen bewussten Einsatz von Licht und Schatten: Chiaroscuro-Effekte verleihen vielen Szenen einen malerischen, kontrastreichen Look. Etwa tauchen Schlüsselmomente – wie die Kreatur, die Viktors Braut Elizabeth in ihrem blutbefleckten Hochzeitskleid hält – in ein Spiel aus hellen und dunklen Flächen, das sofort ins Auge sticht. Ein anderes Beispiel ist das Bild von Viktors toten Mutter Claire, deren bleicher Leichnam in einem offenen Sarg voller roter Rosen aufgebahrt ist, während leise Schneeflocken herabfallen. Dieses makabre, aber ästhetisch durchkomponierte Tableau kontrastiert Viktors idealisierte Vorstellung von Reinheit mit der morbiden Realität – ein typisches Gothic-Motiv, das an viktorianische Gemälde oder an del Toros eigene Inszenierung in Crimson Peak (wo Blut und Schnee in ähnlicher Weise kontrastiert wurden) erinnert. Insgesamt demonstrieren solche „malerischen Motive“ del Toros und Laustsens Gespür für die Traditionen der Gothic-Ästhetik, wie sie auch früheren Filmen des Regisseurs zugrunde liegt.

Ausstattung, Setdesign und Farbdramaturgie
Frankenstein besticht durch ein ausgefeiltes Produktionsdesign, das historische Authentizität mit del Toros Sinn für das Fantastische verbindet. Jedes Set ist bis ins Detail ausgestattet – von den verwitterten Steinmauern in Viktors geheimem Turmlabor bis zu den reichen Textilien der Salons und Ballkleider im 19. Jahrhundert. Gleichzeitig sind die Bühnenbilder so gestaltet, dass sie ikonische, fast archetypische Bilder erzeugen. Del Toro erwähnte in einem Interview, dass er das Labor „fast wie eine Bühne“ entworfen hat, mit klaren, eindringlichen Formen (beispielsweise einem riesigen Kreuz, an dem ein Kadaver wie an einem Altar hochgezogen wird) – im Gegensatz zu Crimson Peak, wo er jedes Eckchen mit detailverliebter Ausstattung gefüllt hatte (dort „Detail auf Detail auf Detail“). In Frankenstein dominieren stattdessen große, symbolträchtige Strukturen: Viktors finsterer Turm etwa wirkt wie eine gotische Kathedrale des Wahnsinns, ein zerfallendes Monument voll dunkler Geheimnisse. Diese Architektur und die umgebende wilde Landschaft rufen unweigerlich Erinnerungen an das Anwesen aus Crimson Peak oder an die unterirdischen Gemäuer in Pans Labyrinth wach. In all diesen Filmen erschafft del Toro räumliche Spiegelbilder der Figurenseelen: Hier wie dort wird an den Gemäuern der Verfall und die Verderbnis sichtbar, die den Protagonisten innerlich droht. Doch während Crimson Peak als Kammerspiel fast vollständig in einem einzigen, labyrinthartigen Spukhaus spielte, weitet Frankenstein den Horizont: Der Film wechselt zwischen opulenten viktorianischen Interieurs, schneebedeckten Naturkulissen und dem klaustrophobischen Laboratorium. Dadurch entsteht ein episches Gefühl von Weite, das man so in del Toros früheren Gothic-Werken selten hatte.

Ein herausragendes Merkmal ist die Farbdramaturgie. Del Toro entschied bewusst, Frankenstein nicht in verwaschenen Sepiatönen eines typischen Kostümdramas zu halten. Stattdessen strotzt der Film vor kräftigen, symbolischen Farben. Die Palette wird von eigenwilligen Kombinationen dominiert: „türkisgrüne und glühende Orangetöne“ bestimmen viele Szenen und verleihen der Geschichte eine fast andereweltliche Stimmung. Diese ungewöhnliche Farbwahl unterscheidet Frankenstein von den eher gedämpften Erdtönen in Pans Labyrinth oder den schwarz-rot-goldenen Tönen in Crimson Peak. Tatsächlich erinnern die Türkis- und Orangenuancen ein wenig an The Shape of Water, wo del Toro ebenfalls mit Grün-/Blau-Tönen (für das Alltägliche und Fremde) und warmem Gelb/Orange (für das Menschliche und die Liebe) arbeitete. In Frankenstein scheinen die leuchtenden Orange-Töne häufig mit Feuer, Kerzenlicht und Sonnenaufgängen assoziiert – ein Hoffnungsschimmer in der Dunkelheit – während kaltes Grünblau die unnatürliche Existenz der Kreatur und die nächtliche Welt des Labors untermalt. Zusätzlich setzt del Toro seine bekannten Signalfarben ein: „Überall finden sich seine geliebten Rottöne und pechschwarzen Schatten“. So erstrahlen z.B. Viktors Visionen von engelsgleichen Wesen in einem unheilvollen Karmesinrot, und Blut kontrastiert immer wieder auffällig mit Schnee oder blassem Licht . Wie schon in Crimson Peak (wo rote Tonerde und Gespenster die Szenerie durchzogen) nutzt del Toro Rot und Schwarz hier für eine traumwandlerische Gothic-Atmosphäre – „ein visueller Alptraum, in dem man dahinschwelgen kann“. Bemerkenswert sind auch die Kostüme: Anstatt historisch steif und gedeckt zu sein, sind Viktors Kleidung und die Garderobe der anderen Figuren „prächtig, voller Farbe und sogar mit modernem Flair“ gestaltet. Del Toro wollte ausdrücklich keine blass-pastellige Kostümfilm-Ästhetik, sondern „pompöse Mode mit viel Swagger“ – ein Ansatz, der bereits in Crimson Peak (opulente viktorianische Kleider) oder The Shape of Water (knallgrüne Bonbon-Pie und knallrote Accessoires) zu sehen war. Hier in Frankenstein betont die farbenfrohe Pracht vor allem Viktors exzentrisches Genie und die Lebenskraft, die er verzweifelt zu meistern sucht.

Kreaturendesign und Effekte
Wie in all seinen Filmen legt del Toro großen Wert auf das Creature Design – und hier konnte er endlich sein Traummonster erschaffen. Die Kreatur in Frankenstein ist ein Meisterwerk praktischer Effekte und Maskenbildnerei. Mit Hilfe aufwendiger Prosthetics wird Jacob Elordi in ein großgewachsenes, narbenübersätes Wesen verwandelt, das gleichermaßen Furcht einflößt wie Mitleid erregt. Das Design ist näher an Mary Shelleys Beschreibung als die klassischen flachköpfigen Karloff-Darstellungen: Del Toros Monster wirkt wie ein zusammengeflicktes Puzzle menschlicher Körper – „sein Torso sieht aus wie zusammenstoßende tektonische Platten“, schrieb ein Kritiker bewundernd. Diese krude körperliche Konstruktion spiegelt sich sogar subtil im Kostümbild: Ein grünes Kleid von Mia Goths Figur Elizabeth etwa weist ein Muster aus aneinandergedrückten Inseln auf, was optisch an die Narbenplatten der Kreatur erinnert. Ich sah sogar Ridleys Scotts Prometheus im Film wieder.

Solche visuelle Spiegelungen zeigen die Sorgfalt, mit der del Toros Team (u.a. Szenenbildnerin Tamara Deverell und Kostümbildnerin Kate Hawley) gearbeitet hat. Ganz wie bei del Toros früheren ikonischen Kreaturen – ob der leichenbleiche Pale Man und der Faun in Pans Labyrinth oder der Amphibienmensch in The Shape of Water – setzt auch Frankenstein auf greifbare, handgemachte Effekte. Die physische Präsenz der Kreatur ist in jeder Szene spürbar und konsistent beeindruckend, was die emotionale Verbindung zum Publikum verstärkt. Del Toro inszeniert das Monster mit einer Mischung aus Schauder und Empathie: In manchen Momenten ist es ein furchterregender Verfolger im Stil klassischer Horror-Ungeheuer, doch schon im nächsten zeigt eine zarte Geste – etwa wenn das Wesen behutsam eine kleine Maus in den Händen hält – die angeborene Sanftheit und Verletzlichkeit im Inneren. Diese Ambivalenz im Monstercharakter kennt man auch aus The Shape of Water, wo das fischähnliche Geschöpf zugleich unheimlich und liebenswert war. Tatsächlich bemerken Beobachter, dass del Toros Frankenstein-Kreatur „dem Amphibienmann aus Shape of Water näher ist als den früheren schlurfenden Monsterdarstellungen“ – beide sind furchterregend und doch wunderbar menschlich in Geist und Auge.

Vergleich mit früheren Werken
Betrachtet man Frankenstein im Kontext von del Toros Filmografie, erkennt man einerseits viele wiederkehrende Handschriften, andererseits aber auch Weiterentwicklungen. Themensetzungen wie das Aufbegehren gegen Autorität und der unschuldige Blick auf Monstrosität sind schon in Pans Labyrinth zentral – dort rebelliert die junge Ofelia gegen ihren sadistischen Stiefvater (eine Art monströser Vaterfigur), hier stellt sich die Kreatur gegen ihren Schöpfer. In beiden Fällen plädiert del Toro für Ungehorsam gegenüber tyrannischer Autorität, ein Motiv, das er selber als wiederkehrend in seinen Filmen erkannt hat. Visuell-teatralische Elemente wie die kreisförmige Bildsprache tauchen ebenfalls erneut auf: Wie schon in Crimson Peak oder Nightmare Alley (wo runde Fenster und Spiralen Schicksalskreise andeuteten) arbeitet del Toro auch hier mit Kreis-Motiven. Tatsächlich beginnt Frankenstein mit einem Sonnenaufgang und endet mit einem Sonnenaufgang – ein bewusster Kreis, der geschlossen wird . Diese Symbolik unterstreicht den Zyklus von Schöpfung und Vergebung, der durchlaufen wurde, und findet Entsprechungen in den von del Toro geliebten Wiederholungsmotiven früherer Filme (z.B. die zyklische Erzählstruktur in The Shape of Water, wo Anfang und Ende im Wasser sich spiegeln).

Gleichzeitig wagt del Toro in Frankenstein stilistisch Neues. Insbesondere der Tonfall des Finales – bittersüß, aber hoffnungsvoll – sticht hervor. Wo Pans Labyrinth in tragischer Erlösung endete und Crimson Peak die Heldin traumatisiert, aber lebend zurückließ, wo sogar The Shape of Water die finale Vereinigung der Liebenden ins Fantastisch-Ungesicherte verlagerte, da gönnt Frankenstein seinem Monster eine ungewohnt optimistische Perspektive. Nach all dem Leid glaubt die Kreatur am Ende, „dass das Leben – wie die Sonne – erneut aufgehen wird und vielleicht ein Platz für sie in dieser neuen Welt existiert“. Dieser Hoffnungsschimmer fügt sich durchaus in del Toros romantische Ader (schon Shape of Water feierte die Liebe zwischen Außenseitern), doch hier wirkt er noch bewusster als Aussage über Vergebung und menschliche Imperfektion. Del Toro lässt seine Figuren am Ende Frieden schließen mit der Unvollkommenheit des Daseins: „Das Leben ist unperfekt, und der Film schließt damit Frieden – Menschsein heißt, den Anderen sehen zu können“, so umschrieb er seine Intention. Damit setzt Frankenstein einen lichten Schlusspunkt in del Toros Œuvre der „schönen Monster“ – ein Schlussakkord, der sich trotz aller Tragik fast versöhnlicher anfühlt als die Melancholie früherer Werke.