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Konzertkritik: Kraftwerk in Essen

26. November 2015
Ein Jugendtraum wird wahr - Kraftwerk in Essen. Ein Jugendtraum wird wahr – Kraftwerk in Essen.

Ehrfürchtig nehme ich auf dem Gangplatz in der zweiten Reihe im Essener Traditionskino Lichtburg Platz. Vor mir ein mächtiger roter Vorhang. Hinter diesem Vorhang soll sich gleich ein Jugendtraum von mir verwirklichen. Ich darf Kraftwerk live sehen – endlich.


Als Jugendlicher hatte ich diese Band für mich entdeckt und war durch all die Jahre ein Verehrer der deutschen Elektronikband. Kraftwerk war anders als die Bands meiner Jugend. Es waren keine Gitarrenhelden, sondern Techniker in den Kling-Klang-Studios, die einen ungewöhnlichen Sound heraufbeschwörten. Ich kaufte die Platten in Vinyl, Langspielplatten und Singles, dann später die Musik als CD. Der Katalog in schwarz und weiß sind für mich wichtige Boxen. Doch Kraftwerk habe ich noch nie live erlebt. Bei den Münchner Konzerten hatte ich keine Karten bekommen, das Event im ZKM habe ich verbummelt und für die Auftritte in der Londoner Tate Gallery habe keinen Flug bekommen, den ich mir leisten wollte. Aber in Essen soll es jetzt sein. Kraftwerk live auf der Bühne.


Die Faszination, die ich für diese Musik empfinde, sprach und spricht bei mir alle Sinne an: Den Kopf, den Bauch, die Seele. Ich gehe gerne auf Konzerte und freue mich auf die Künstler, die ich dort sehe. Es ist Unterhaltung pur, wenn die Künstler mir eine gelungene Show abliefern. Aber bei Kraftwerk bin ich nervös. Ich nahm eine stundenlange Reise von München nach Essen mit dem ICE auf mich, wurde nach den Terroranschlägen in Paris professionell und ausgiebig beim Betreten der Lichtburg gefilzt und sitze jetzt in meinem Kinosessel in der zweiten Reihe, nah, ganz nah an der Bühne. Ich geb es zu, ich war nervös. Ich spüre die gleiche Unruhe in mir wie vor einer Wagner-Aufführung in Bayreuth. Wie wird es werden? Wird mein Jugendtraum gleich zerplatzen? Kraftwerk ist nicht einfach eine Musikkonzert, es ist Kunst, ein Kunstgenuss pur. Für mich ist Kraftwerk ein Gesamtkunsterlebnis.

Um mich herum ziehen die Fans aus dem Ruhrpott ihre 3D-Brillen auf, denn Kraftwerk hatte für uns eine Multimedia-Show in Stereoskopie im Gepäck. Die Gespräche verstummen. Aufgrund meines Augenleidens lasse ich meine 3D-Brille in der Tasche.

3D-Brillen am Eingang. 3D-Brillen am Eingang.

Jeder Konzertbesucher bekam am Eingang eine polariserte Brille im Kraftwerk-Look überreicht. Auch ich nahm eine, ziehe die 3D-Brille aber nicht auf. Ich will nur die Band hinter ihren Pulten betrachten und genießen. Punkt 0 Uhr geht es los. Meine Frau hatte mir eine Karte für die zweite Show des Abends gekauft und ich bin ihr über ihre Platzwahl ganz vorne zutiefst dankbar. So nah dran an der Band und den Boxen.


Der Vorhang öffnet sich. Auf der Bühne stehe die legendären vier Pulte. Der Applaus ist gewaltig, ich klatsche, um meine Spannung abzubauen. Es geht los. Der Surround-Sound drückt mich in den Sessel der Lichtburg. Glasklarer fetter Sound, der Bass haut rein. Das größte deutsche Filmtheater mit 1500 Plätzen ist komplett ausverkauft. Die Mensch-Maschine nimmt ihren Verlauf. Die Kraftwerk-Performer betreten in ihren Neopren-Anzügen die Bühne. Die Audio Operatoren (netter Name für die Musiker) Ralf Hütter, Fritz Hilpert, Hennig Schmitz und Video Operator Falk Grieffenhagen. Von der Originalbesetzung ist nur Ralf Hütter übrig geblieben. Klaus Dingler ist leider verstorben und Karl Bartos macht sein eigenes Ding und ich werde ihn mir auch noch ansehen, irgendwann, irgendwo. Bartos macht Kraftwerk-Musik, wie sie im 21. Jahrhundert klingen sollte. Ralf Hütter ist eher der Bewahrer – also genauso ein Streit wie um Wagner. Geblieben ist die Musik, Elektropop mit und fürs Köpfchen. Für mich ist Kraftwerk die Urband der elektronischen Musik – vor Kraftwerk gab es im elektronischen Bereich nichts, was von irgendwie Bestand hatte. Kraftwerk hat meine musikalische Welt umgestaltet, eingerissen, komplett neu definiert. Und jetzt sehe ich diese Pioniere, diese Revolutionäre ein paar Meter vor mir auf der Bühne. Obwohl sich Kraftwerk die Entpersonalisierung der Musiker auf die Fahnen geschrieben hat, war ich auf die Musiker neugierig. Hinter ihnen läuft eine beeindruckende 3D-Show auf, doch ich konzentriere mich auf die Musiker. Ralf Hütter singt die legendären Zeilen, die jeder in der Lichtburg mitsingen kann. Ja, wir sind alle Textsicher bei Kraftwerk-Songs. Bei dem Song Computerwelt sah Kraftwerk die totale Digitalisierung und Überwachung voraus. Nie zuvor war Kraftwerk aktueller denn je – NSA, Snowden, Vorratsdatenspeicherung. „Interpol und Deutsche Bank, FBI und Scotland Yard – Flensburg und das BKA, haben unsere Daten da“. Für die Zeilen muss man Kraftwerk einfach lieben: „Automat und Telespiel – Leiten heute die Zukunft ein – Computer für den Kleinbetrieb – Computer für das eigene Heim“.


Als die Klänge von Autobahn erklangen, bekomme ich meinen persönlichen Flashback. Ich erinnere mich, wie ich diese Musik das erste Mal gehört habe. Was war das? Es waren keine drei-Minuten Hitsingle wie bei anderen Künstlern, sondern die Komposition entfaltete eine intensive hypnotische Kraft. Die Redundanz prägte sich ein. Als Jugendlicher kam nur noch Brian Eno und David Bowie mit der Berliner Phase an diese Musik heran, alles andere war oberflächliches Gedudel.


Im Grunde läuft ein Kraftwerk-Konzert computergesteuert wie ein Uhrwerk ab. Ein Absturz wie auf dem Düsseldorfer Konzert in der Philipshalle am 31. Oktober 1991 gab es in Essen nicht. Die Showmaschinerie der Mensch-Maschine lief perfekt. Ab und zu wippt Ralf Hütter mit den Füßen, aber die Musiker halten sich meist zurück. Als gegen Ende der Show nach einem Vorhang die Roboter auf die Bühne kommen, bringen die mechanischen Gesellen in einem Song mehr Bewegung auf die Bühne als die menschlichen Musiker während des ganzen Konzerts. Als Kind habe ich die Roboter mit den roten Hemden und schwarzen Krawatten im Fernsehen gesehen und wusste nicht, ob die Band nun echt oder mechanisch war. Heute weiß ich, dass Kraftwerk menschlich ist, denn Ralf Hütter grinst von der Bühne.
Eindrucksvoll waren Tour de France, das Model und immer wieder Radioaktivität mit überarbeiteten Texten. Beim Trans Europa Express denke ich an meine Zugfahrt und freue mich, dass Europa zusammengewachsen ist. Ich gerate immer tiefer in den Song der Musik und als die Klänge von Elektro Kardiogramm erklingen, drückt es mich in meinen Kinosessel hinein. Die legendären Textzeilen „Music non stop, techno pop
Es wird immer weitergehen – Musik als Träger von Ideen“ haben mich wieder gepackt. „Es wird immer weitergehen – Musik als Träger von Ideen“ genau das ist es – bravo.


Nach zwei Stunden verabschieden sich Kraftwerk mit Improvisationen auf ihren Software-Synthesizern und -Sequencern, gehen Mann für Mann an den Rand der Bühne und verbeugen sich artig. Ralf Hütter ist der letzte, der von Bord geht. „Gute Nacht, bis morgen“ lauten seine Worte an uns.

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Nein, für mich heißt es bis gleich. Ich bleibe noch ein wenig im Kinosaal sitzen und schaue mir im Vorraum den Verkaufsstand mit T-Shirts und Mauspads an. Ich muss vier Stunden überbrücken, bis mich mein ICE wieder nach Bayern bringt. Ein wenig spaziere ich durch die Innenstadt von Essen und lande in einer Kneipe. Ich höre dort Kraftwerk über das iPhone. Mein Leben ist schön.

Musiktipp: Soundtrack Gravity von Steven Price

24. März 2014

Gravity

Seit zwei Tagen bin ich von einer Sucht befallen: es ist der Soundtrack zu Gravity. Der Film war ja die diesjährige Oscar-Überraschung. Der Soundtrack ist es noch viel mehr für mich. Den Score von Gravity komponierte Steven Price. Der 1977 geborene Price fiel mir das erste Mal als Musiceditor zum Soundtrack von Herr der Ringe auf.

Für die Musik zu den Film Gravity erhielt Steven Price unter anderem einen Oscar. Und hier hat die Academy richtig entschieden. Der Score ist sehr ungewöhnlich. Er basiert vor allem auf elektronischen Effekten. Dem großen Brian Eno wird im Booklet gedankt. Der klassische symphonische Score tritt etwas in den Hintergrund, ist aber vorhanden.

Ich habe den Score Gravity erstmals in voller Lautstärke über Kopfhörer gehört. Und die experimentelle Kraft des Scores mich hinweggefegt. Klangfetzen, Stimmungen, Druck, Schwingungen – dies alles hat der Zuhörer in den ersten Minuten zu verkraften oder besser einzuordnen. Meine erste Reaktion: So klingt wahre Musik aus dem Weltraum. Als Kind gab es immer nette Synthie-Spielereien, die als Space Musik bezeichnet wurde. Alles Quatsch. Steven Price hat die Musik für einen Aufenthalt im Weltenraum komponiert: Dicht und komplex ist die Soundkollage, die das Gefühl des absoluten akustischen Vakuum mehr als deutlich machen. Musik für die Space Opera des 21. Jahrhunderts.

Während sich die großen Kollegen aus Hollywood, wie der verehrte John Williams oder Howard Shore, der Motivtechnik eines Richard Wagners bedienen, verzichtet Steven Price bei Gravity fast gänzlich auf Leitmotive. Taucht ab und zu eine Motivstruktur auf, wird sie relativ schnell von den experimentellen Toneskapaden aus dem Weltraum überdeckt. Einzelne Stücke enden erprubt. Der Hörer schreckt auf.

Dieser Soundtrack ist eher was für die einsamen Momente. Ich empfehle unbedingt diesen Score laut, sehr laut zu hören. Für mich steht fest: ich werde die Karriere von Steven Price weiterhin im Auge oder besser im Ohr haben. Ich bin gespannt auf seine nächsten Werke. Auf jeden Fall eine klare Kaufempfehlung für den Soundtrack von Gravity.