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Buchtipp: Die wilden Achtziger von Christian Schulz

16. September 2017

Ich war Mitte der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts das erste Mal in West-Berlin. Die Stadt erstaunte mich als Teenager. Ich war Teilnehmer eine Bildungsreise und nach dem offiziellen Programm machte ich mich abends auf und erkundete als Jugendlicher die fremde, große Stadt. Interessanterweise war ich zuvor aufgrund der DDR-Verwandtschaft früher in Ost-Berlin als in West-Berlin. Aber kein Zweifel, West-Berlin gefiel mir besser.
Daran erinnerte ich mich, als ich das Buch Die wilden Achtziger von Christian Schulz in die Hände bekam. Es sind Fotografien aus West-Berlin, geschossen von dem taz-Fotografen Christian Schulz. Als ich das Buch zum ersten Mal in den Händen hielt, war ich fasziniert und ärgerlich zugleich.

Fasziniert, weil das Buch ein unheimlich eindrucksvolles Zeitdokument ist – von einer Zeit, in der ich heranwuchs und von der ich unbewusst viel aufgenommen und mitgenommen habe. Ärgerlich, weil ich es versäumt habe, diese Zeit für mich zu dokumentieren. Ich hatte zwar einen Fotoapparat, eine Mintolta X700, und fotografierte in Schwarzweiß, aber die Kamera hatte ich nur zu besonderen Gelegenheiten ausgepackt wie Geburtstage, Weihnachten usw. Ich glaube, ich habe lückenlos die Christbäume und den Christbaumschmuck unserer Familie über all die Jahre dokumentiert, aber nicht wirklich wichtiges. Ich hatte später zwar ein Schwarzweiß-Labor, doch es war immer ein Aufwand im Badezimmer meiner Eltern das Teil aufzustellen. Was gab es damals für interessante Motive, die ich vielleicht gesehen, aber garantiert nicht fotografisch festgehalten habe. Meine Eltern knipsten nur und Streetfotografie gab es für mich nicht. Film war doch teuer.

Aber zurück zu Christian Schulz und seinem Buch. In dem lesenswerten Vorwort bezeichnet Arno Widmann den Fotografen Christian Schulz als Fotograf einer Übergangsgesellschaft. Ein wahrlich trefflicher Ausdruck. West-Berlin war in den achtziger Jahren eine Insel im Umbruch. Ein Abi-Kollege brach nach West-Berlin auf, um nicht zum Bund zu müssen. Die Wiedervereinigung machte ihn einen Strich durch die Rechnung. Die alternative Szene war in West-Berlin zu Hause und bei meinen Streifzügen als Teenager sah ich heruntergekommene Häuser und andere Lebensformen, die ich im konservativen, katholischen Bayern nie gesehen hatte. Ich empfand die Berliner als unfreundlich und gesellig zugleich. Berlin war ein anderes Pflaster als München. Es ging irgendwie rauer, härter zu. Das schreckte mich ab, faszinierte aber auch.

Und dieses Gefühl hatte ich wieder als ich die Fotos von Christian Schulz betrachtete. Es sind zunächst Alltagsszenen, erst später kommen Fotos von wichtigen Ereignissen hinzu. Fotos von Menschen, die Geschichte machen und ihre Geschichte erzählten. Es sind aber mehr Schnappschüsse aus dem Alltag, die mich faszinierten. Sie zeigen Leute, die in Berlin lebten und für mich Berlin verkörperten. Die Disco-Bilder waren abgefuckt als glitzernd. Der ehemalige taz-Fotograf zeigte im ersten Teil seines Buches nicht den Glamour, den ich in Berlin auch zu sehen bekam. Diese Fotos kommen im zweiten Teil, Fotos von Prominenz, Filmfestspiele oder Kurfürstendamm. Aber diese Art von Gesellschaftsfotografie habe ich bei anderen Fotografen für meinen Geschmack besser gesehen. Ich war verwöhnt durch Michael Graeter und die Abendzeitung als Promi-Lieferant. Also beschränke ich mich eher auf den rauhen und authentischen Teil des Buches.
Ob Christian Schulz bei seinen Streetfotos seine menschlichen Fotomotive um Erlaubnis zur Veröffentlichung gefragt hat, bezweifle ich. Streetfotos in Deutschland sind schwer geworden. Persönlichkeitsrechte werden verletzt und eine Erlaubnis zur Veröffentlichung zu erhalten, grenzt in Deutschland nahezu als ein Wunder. So gerne würde ich Streetfotografie machen, aber die rechtlichen Hürden sind mir zu hoch. Das ist in anderen Staaten anders. Als ich Silvester in den USA weilte, da war die Mentalität eine ganz andere. Leute hatten oftmals kein Problem, wenn ich sie fotografierte. Sie setzten sich sogar für mich in Szene. In Deutschland unmöglich.
Und das den Reiz des Buches von Christian Schulz aus. Damals, als es in den achtziger Jahren zwar auch Persönlichkeitsrechte gab, aber sich in Berlin die Leute wohl weniger darum kümmerten. Wenn man jemanden fotografierte, der es nicht wollte, bekam man eine aufs Maul und damit hatte es sich – so muss wohl die Mentalität gewesen sein. Für mich ist dieses Buch Die wilden Achtziger von Christian Schulz eine wunderbare fotografische Zeitreise in meiner Teenager-Zeit.

Filmtipp zu Weihnachten: Das 1. Evangelium – Matthäus

16. Dezember 2011

Weihnachten kommt dieses Jahr am 24. Dezember. Zu Weihnachten gehören auch die üblichen Jesus-Verfilmungen, die über die Mattscheibe flimmern werden. Ich möchte an zwei Filme erinnern, die mir gefallen haben: Zum einen Die letzte Versuchung Christi vom großen kleinen Martin Scorsese und zum anderen absolut sehenswert Das 1. Evangelium – Matthäus des großen Provokateurs Pasolini.

Gerade die Interpretation des Atheisten und Kommunisten Pier Paolo Pasolini ist für mich bemerkenswert. Wie kann ein Kommunist und Christusverweigerer den besten Jesus-Film überhaupt drehen? Ganz einfach: Er hatte ein cooles Drehbuch: Die Bibel. Der Film Das 1. Evangelium – Matthäus hält sich weitgehend an den Originalbibeltext. Und der gefällt der Zielgruppe. Als der Film in den sechziger Jahren im Vatikan aufgeführt wurde, gab es 40 minütigen donnernden Applaus von kirchlichen Würdenträgern in Richtung Pasolini. Früher hätten sie ihn auf den Scheiterhaufen verbrannt, jetzt aber loben und preisen sie ihn. Der Film ist Zündstoff pur.

Pier Paolo Pasolini drehte mit Laiendarstellern, aber er wählte sie hervorragend aus. Sein Jesus ist ein zorniger Mann, der klare Positionen an den Tag legt und sich mit dem Establishment anlegt. Das gefällt Pasolini. Sein Jesus ist ein Querdenker, ein Revolutionär, der auf Seiten der Unterprivilegierten steht. Er wirft die Händler aus dem Tempel, ist aber eine Seele von Mensch gegenüber Kindern.

Aus heutiger Sichtweise ist der Film mit 131 Minuten langatmig und zerrt an den Nerven von modernen Sehgewohnheiten. Lange Einstellungen, Stille, getragene Dialoge – aber die Botschaft ist genial. Das sahen Publikum und Kritiker ebenso. Der in Schwarzweiß komponierte Film wurde bei den Filmfestspielen in Venedig 1964 mit dem Sonderpreis der Jury ausgezeichnet. Er war auch für den Oscar nominiert, ging aber am Ende leer aus. Soviel Respekt hatte das kommerzielle Hollywood dann doch gegenüber dem Kommunisten Pasolini und seiner Version des Evangeliums nicht. Bemerkenswert ist auch der Soundtrack des Films. Mozart und Spirituals sowie Rhythmen werden gemixt. So einen Soundtrack gab es eigentlich sehr viel später und hier erwies sich Pasolini als Wegbereiter Sehr schön, ist die Version von „Sometimes I feel like a Motherless Child“ von Odetta.

Also schaut euch diesen Jesus-Film und lasst die Glotze bei dem üblichen Hollywood-Schund aus. Es ist mit Abstand die beste Jesus-Verfilmung.